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18.02.2005

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Bericht von Katharina Nachtigal

Diesen Text haben wir aus dem "Neu Samara" Buch entnommen. Dort hat er den Namen "Kuterlja von 1892 -1992: Einnerungen an auserwählte Verstorbene auf dem Friedhof" verfasst von Katharina Nachtigal, geb. Unger. Besonders interessant ist dieser Bericht für alle, die Vorfahren und Verwandte in Kuterlja haben, Katharina Nachtigal beschreibt darin das Leben vieler Einwohner von Kuterlja der 1. und 2. Generation, und sie gibt damit guten Einblick in das Dorfleben. Was mich (Dietrich) am meisten beeindruckte, war der erstaunliche Weitblick einiger Dorfbewohner, so besaß z.B der Großvater der Verfasserin ein Buch des französchen Philosophen Voltaire.


Jakob Suckau
Johann und Heinrich Martens
Peter Nachtigal
Johann Wiebe
Heinrich F. Unger (1851-1919)
Katharina Unger (1858-1919)
Elisabeth Epp (geb. Fast) (1874-1919)
Abram Epp (1862-1938), ehemaliger Dorfschulze
Johann Töws
Heinrich Reimer, Gutsbesitzer
Maria Töws, Hebamme
Maria Töws, Tochter von Maria Töws
G. J. Wiens, Lehrer
Isaak Derksen, Tischler
Martin Penner
Peter Epp
Abram Krüger
Helene Tun
Katarina Derksen
Johann Görzen
Klaß Unger, Feuerwehrmann
Heinrich Nachtigal
Susanna Nachtigal
Johann Nickel
Helena Nickel (geb. Suckau)
P. Suckau
Johann Thießen
Gerhard und Liese Fast
Heinrich Friesen
Jakob Neufeld
Jakob Plett
Anna Heide
Heinrich Heide
Abraham Janzen
Gerhard Unger
Katarina Adrian
Heinrich Wedel
Katarina Görzen
Johann Epp
Maria Pankratz (geb. Epp)
Heinrich Pankratz
Gerhard Thießen und Nickolai Pauls
Abram Schartner
Anna Martens (geb. Klassen)
Abram Klassen und Sara Klassen
Prediger Isaak
Jakob Martens
Helene Schröder und Lilli Pauls
Epp-Schellenberg
Heinrich Friesen, Sohn von Heinrich Friesen
Peter Friesen
Jakob Friesen
Heinrich Martens (1897-1991)
Lehrer in Kuterlja
Gerhard Thießen, Lehrer
Sara Fransen und Helene Epp
Sara Fransen (geb. Görzen)
Peter Fransen
Amalie Isaak, Frau Reimer, Frau Dridiger, Aganeta Isaak, Helene Schröder, Suse Park

Als die ersten Deutschen von der Station Sorotschinsk durch die russischen Dörfer fuhren, wurden sie neugierig wegen ihren ringeligen Strümpfen, Hüten und Lederwesten beobachtet, Die plattdeutschen Mennoniten waren auf dem Land und für das Land geboren. Die meisten Ansiedler ruhen auf diesem Friedhof, im Staube der Erde. Aus Erzählungen kannte ich sie alle, an viele erinnerte ich mich noch selbst. Auf dem Friedhof war am Morgen Totenstille. Auch im Dorfe war in der Stunde "nach dem Vieh" noch alles ruhig. Aber bald ging es zur Arbeit. Es schliefen noch die Vögel auf den Eschen und Fliederbüschen, wie die Kinder im Dorfe. Ich fühlte eine tiefe Ehrfurcht vor jedem Grabhügel, denn an jedem endet ein Menschenschicksal. Wie verschieden waren die Schicksale der Entschlafenen. Hier auf dem Friedhof schienen alle vereint zu sein, denn an allen Gräbern wurden ein und die selben rührenden Lieder gesungen. Obzwar alles still war, klang es mir in den Ohren: "Das Leben gleicht dem Sommertag, ist licht- und schattenreich." Wurde ein Greis begraben, sang man: "Wehrlos und verlassen sehnt sich oft mein Herz nach stiller Ruh." Vierstimmig tönte ein anderes Lied: "Die Zeit ist kurz, o Mensch sei weise." Die Worte "Der Kluge wirket und gewinnet, verbringt die Zeit mit Gutes tun." erweckte in jedem das Verlangen, besser zu werden. Denn wer konnte sich rühmen, dass er nur Gutes tat?. Ähnliche Lieder gab es viele und Begräbnislieder wurden in Dur gesungen, kein einziges in Moll. In 80 Jahren waren es 16 Reihen der Entschlafenen, alle dem Osten zugewandt, denn die aufgehende Sonne ist ein Symbol der Unsterblichkeit.

In der fünften Reihe, unter einer Esche ruht Jakob Suckau, dessen schöne Kaiserkrone mich am frühen Morgen erfreut hatte. Manche hatten ihn einen Sonderling genannt, andere als Fanatiker bezeichnet. Er war der erste, der laut ausrief, dass die Apfelbäume hier in den samarischen Steppen Früchte tragen würden, wie dort im Süden an der Molosch. "Auch allerschönste Blumen sollen uns hier erfreuen!" Ihm folgten alle Ansiedler und Kuterlja mit ihren Lehmhäusern wurde ein blühendes Dorf. Ehre und Dank den ersten Bahnbrechenden.

Den Brüdern Johann und Heinrich Martens gehörten die ersten Häuser des Dorfes, arbeitsam und wohlwollend waren sie. Sie liebten den Frieden und waren bemüht anderen mit Wort und Tat bei zu stehen. Mit eigenen Händen harte Heinrich Martens alle Weidenbäume ums Dorf gepflanzt, welche heute noch das Dorf von nördlichen und östlichen Seiten umringen und beschützen. Wie viel Grün Freude, Brennholz und sogar Baumaterial kamen aus diesen Weidenreihen. Erkennt man in den Nachkommen das Wohlwollende, die Tüchtigkeit und die Friedfertigkeit, so sagt man: "Nun ja, es kommt von den Martens." Obgleich die Brüder schon lange in der Erde ruhten, ihre Werke folgten ihnen nach.

Das dritte Haus in der Reihe gehörte dem Ansiedler Peter Nachtigal, dem Ur-, Ur-, Urgroßvater mehrerer Kinder des Dorfes. Er verteilte und vermaß das Land und war auch weit und breit bekannt. Trotz seiner großen Schafherde und 160 Hektar Land lebte er einfach und schlicht, war aufrichtig und gut zu seinen Arbeitern. Er war auch Vorsänger auf Freud- und Trauerfesten. Er war der einzige im Dorf, der eine Zeitung aus Odessa abonnierte, welche das politische und gesellschaftliche Leben Russlands beleuchtete. Im Dorf verkündigte er die Nachricht, als 1917 ein Geschrei ausbrach, welches die ganze Welt erschütterte.

Der alte Johann Wiebe war 8 - 9 Jahre später angesiedelt. Sein Freund Heinrich Friesen starb 1941. Beide waren sehr lebhafte Menschen mit viel Witz und Humor. Der Unterschied zwischen ihnen war: Wiebe liebte den Humor, Friesen die Satire. Den Humor duldet man, die Satire fürchtet man. Der Humor richtet den Niedergeschlagenen auf, die Satire drückt den Erhobenen nieder. Beide zusammen halten das Leben im Dorf im Gleichgewicht. Nur wer Kuterleer war, wusste diese Tugenden der Ansiedler unseres Dorfes zu schätzen. Heute noch gibt es viele Sprichworte, welche von diesen ausgingen.

Meine Großeltern Heinrich F. Unger (1851-1919) und Katharina Unger (1858-1919) waren nur durch ein Grab getrennt. Der Großvater trachtete nicht nach großen, irdischen Gütern und meinte: "Wenn wir nur das Reich Gottes ererben, das sind die größten Reichtümer." Er machte die besten Strohdächer in der Umgebung. Sogar der reiche Gutsbesitzer, "Karolin" Reimer wusste seine Arbeit zu schätzten. Er freute sich herzlich über die kunstvoll gebundenen Hirsebesen, von denen er jährlich viele machte. Die Großmutter bedauerte, dass sie ihre sechs Söhne nicht mit Land versorgen konnte, weshalb die Ältesten dann nach Sibirien zogen. Der Sohn Heinrich Unger wurde in Sibirien reich aber verlor seinen Reichtum nach der Revolution und zog nach Kanada. Erst zog es ihn zum Land, zum Reichtum, dann floh er von beidem. Der zweite Sohn Jakob war in Sibirien nicht auf den grünen Zweig gekommen und starb im Alter von 90 Jahren in bescheidenen Verhältnissen, aber in fortwährender Dankbarkeit für das gute Leben, für sein tägliches Brot, Kleidung und für den großen Reichtum in Gott, welchem sein Vater nachstrebte. In mir und in hundert anderen lebten ihre Lebensprinzipien weiter: Der Großvater genügsam, die Großmutter strebend.

Im umzäunten Grab unter einer alten Esche lag Elisabeth Epp (1874-1919), meine andere Großmutter. Im 44. Lebensjahr war sie verschieden, schon Greisin, denn die Haube, die schwarze Tracht, der demütige Blick gaben diesen Schein. Sie hatte die drei "K" Kinder, Kirche, Küche streng befolgt, wie die meisten Frauen des Dorfes. Die Keime zur Kokettene, Eitelkeit, welche die Mutter Natur so reichlich im Wesen eines Weibes hinein zu pflanzen versucht, wurden in den mennonitischen Familien gewöhnlich noch in der Kindheit beseitigt, damit sie der zukünftigen Mutterschaft nicht schadeten. Das Wesen einer rechtschaffenen Ehefrau und Mutter sollte eine gesunde Nüchternheit mit Gemütstiefe sein, die fortwährend bestrebt sein sollte, Mann und Kinder zu beglücken und in diesem Streben ihr eigenes Glück zu finden. Unsere Großmütter wurden mennonitisch erzogen zur Demut, zum Dienen, zum Verzeihen und Vergeben, trotz gewöhnlicher äußerer Kälte und Enthaltsamkeit.

Als 18-jährige Liese Fast kam meine Großmutter nach Kurerlja und schloss nach zwei Jahren, 1894 mit dem Ansiedler Abram Epp (1862-1938) den Lebensbund. Er war ein ernster, strenger Mann. Lange war er Schulze des Dorfes. Niemand fühlte so den Ernst der Menschen wie ein Kind, deshalb hatte ich von klein auf eine Ehrfurcht vor ihm. Mir Staunen bewunderte ich die vielen Bücher des Großvaters. Ein braunes Buch von Voltaire war mir ein Rätsel. Wegen des vielen Lesen, Suchen, Zweifeln, Verneinen und Prüfen des Großvaters nannte man ihn gemütskrank. Unter Tränen bereute er auf seinem Sterbebett, dass die vielen Bücher ihn klüger aber nicht besser gemacht hatten. Als man ihn fragte, wie er sich zur Kollektivierung und zur Revolution verhalte, meinte er leise: "Ob ich einfacher Sterblicher sie begrüße oder widerrufe tut wenig zur Sache, aber sie sind zu Stande gekommen, weil die Revolution eine Sühne für die Schuld der regierenden Klassen ist." Als aber in den Jahren nach der Kollektivierung dem Bauern die Kuh zurückgegeben wurde, hoffte der Großvater heimlich auch auf den Schimmel und die alte Braune, denn die Denkweise eines Groß- und Mittelbauern blieb die Denkweise eines Eigentümers.

Johann Töws, ein Ansiedler, war dem Epp nicht nur ein bester Freund sondern auch eine große Stütze in den Stunden der Depression. Als Junggeselle war er hier angesiedelt und wirtschaftete lange allein. Nach dem Tod seines Vaters im Süden heiratete er seine Haushälterin Maria Barwich. Er zählte zu den Männern, die den größten Landbesitz im Dorf hatten, und stand im engem Verkehr mit dem reichsten Mann der deutschen Ansiedlung, dem Junggesellen Heinrich Reimer. Reimer wohnte auf einem Gutshof, aber ließ Land, Hof, Pferde und Auto stehen und zog nach Kanada.

Maria Töws zählte zu den wichtigsten Frauen des Dorfes Kuterlja. Im Verlauf von 40 Jahren empfing sie alle Neugeborenen und kleidete alle Verstorbenen zum letzten Mal. Niemand im Dorfe kam ohne ihre Hilfe aus, da es in allen Dörfern mit der medizinischen Hilfe bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts traurig aussah. Auch mit Worten verstand sie alle zu trösten. Nach meiner Ankunft hatte Frau Töws meine Mutter getröstet: "Macht nichts, dass sie nicht einmal fünf Pfund wiegt, die Welt ist groß, in ihr ist Raum zu wachsen." Nach der Geburt meiner Tochter sagte sie: "Ohne Tochter kein gesichertes Alter." In schweren Stunden fühlten Frauen des Dorfes sich in ihrer Nähe geborgen.

Ihre Tochter Maria Töws sprach immer mit heiserer Stimme und war unsere Sonntagslehrerin 1927-29. An einem Sonntag schmiegte ich mich an Tante Mariechens Seite und fragte, wo Gott eigentlich wohnte. Sie erklärte, dass Er auf allen Bäumen, Blumen, Bergen, Häusern wohnte, aber sein Hauptquartier wären die Herzen der Kinder, wo er sich das Böse und das Gute merkte. Folglich wollte ich meine lieben Eltern nicht anlügen und auch nicht ein Stück Zucker aus dem Mauerschrank in der großen Stube nehmen, wenn Mama nicht schaute, wie mein jüngster Bruder Abram es tat, denn er wusste noch nicht, wer in seinem Herzen wohnte. Wegen ihrer Stimme liebten wir Tante Mariechens Spiele wie "Grünes Gras" mehr als das Singen. Auch die Bengel, die auf der Straße mit Steinen nach uns warfen waren hier ordentlich und gut.

Für mehrere Jahre, in der fünften und sechsten Klasse in der Lugower Mittelschule, erklärte Lehrer G. J. Wiens die Erzählungen der Tante Mariechen für Märchen. Auch dass der Mensch aus dem Garten Eden stammt, stempelte er als Märchen und sagte der Mensch habe gemeinsame Vorfahren mit den Affen. Wir rundeten die Antwort ab und sagten einfach: "Der Mensch stammt nach Darwins Lehre von den Affen." Dieses war sehr deutlich, denn alle Menschen waren geneigt das Gehörte und Gesehene nachzuahmen. Auch in den dreißiger Jahren war er ein Optimist und wollte sein Wissen in den plattdeutschen Dörfern verbreiten. In der sechsten Klasse in der Naturkundestunde erklärte er uns, dass aus gemischten Ehen eine gesündere, stärkere Generation empor steigt als aus nicht gemischten. "Ihr seid zu jung um euch Grünschnäbel solche Themen zu erklären" empörten sich die Eltern der Kinder.

Als die Hitlerarmee 1941 vorwärts schritt und die Lage fürs Land immer bedrohender wurde, sprach Lehrer Wiens sicher und überzeugend, dass unser Heimatland von keinem Feind zu besiegen sei. Aber nach kurzer Zeit wurde er, wie auch andere Lehrer und alle
arbeitsfähigen Männer an die Arbeitsfront hinter dem Ural in eine Kohlegrube gerufen, wo er sein Leben gelassen hat. Aber sein Name war auf keiner Oberliste zu lesen. Hier am Grabe der Maria Töws dachte ich an beide Erzieher meiner Kindheit. Die Belehrung von Tante Mariechen hatte mich besser gemacht, ich wollte nicht lügen oder stehlen und wollte ein ordentliches Kind sein. Die Belehrung des Lehrer Wiens hatte mich klüger gemacht aber nicht besser.

Tante Mariechen und ihr jüngster Bruder, zwei erwachsene Kinder in einem Haus, starben 1933 an einem Tage an Typhus. Als meine Eltern von der Beerdigung nach Hause kamen, zündeten sie einen Wisch Stroh in der Küche an und umgaben sich mit diesem Rauch. Es war damals die einzige Vorbeugung gegen ansteckende Krankheiten.

Isaak Derksen, welcher nicht in den ersten zwei Jahren ansiedelte, war ein guter Bauer: arbeitsam, ernst und streng, zudem ein feiner Tischler Heute noch gibt es mehrere Kommoden, Schränke und Mauerschränke, die von seiner Hand angefertigt wurden. Die "künstlerisch" ausgestatteten Kommoden gehörten auch zur Sache und nicht zur Kunst. Über alles stand die Pünktlichkeit. Wurde die Versammlung nicht um acht Uhr angefangen, wie im Zettel, der das Dorf durchlief, geschrieben war, bekam der Schulze A. Epp sicher einen Verweis von Derksen. So ernst der Derksen, so liebevoll war seine Gattin Justina Derksen, zu welcher man gerne kam, um bei ihr Liebe und Trost in schweren Stunden zu holen.

In den dreißiger Jahren starb der Ansiedler Martin Penner, ein guter, friedfertiger Bauer, welcher tragisch ums Leben kam. Eine 40-jährige Wand, von welcher er einige Ziegeln nehmen wollte, stürzte auf ihn und zur Mittagszeit war er tot. Gewiss glaubte er fest an technischen Fortschritt, sonst hätte er nicht die erste Fußmaschine (Nähmaschine) ins Dorf gebracht. Unter seinen vielen Nachkommen gibt es verschiedene Ingenieure. M. Penner sagte: "Wenn ich sehe, dass mein Nachbar böse ist, habe ich kein Recht, auch so zu sein."

Peter Epp, der erste Schüler der Lugower Zentralschule, ertrank im Jahre 1914. Die tiefbetrübte Mutter folgte bald ihrem Sohn. Der Vater beweinte seinen Sohn mit den Worten: "Er musste uns genommen werden, weil ich zu stolz auf ihn war."

Der Ansiedler Abram Krüger wurde fast 90 Jahre alt. In den letzten Tagen seines Lebens warnte er die Angehörigen: "Weidet nicht die Wiesen und Berge im Herbst so kahl, sonst verschwinden die Wurzeln der Gräser und es wird im Frühling das Gras fehlen." Auf das Wirtschaftliche war er bedacht und hatte eine Musterwirtschaft in der Mitte des Dorfes. In einer Nacht im späten Herbst 1929 nach einer fetten Schweineschlacht stand seine Musterwirtschaft mit Nebenbau und die Wirtschaft meines Großvaters A. Epp, seines Nachbars, in Flammen. In zwei Stunden war die Arbeit von 30 Jahren niedergebrannt. Nach zwei Jahren erklärten beide Bauern diese Flammen für ihr Glück, denn sie kamen in der Kollektivierung nicht in Betracht als Großbauer.

Helene Tun starb 1949. Obzwar Tuns nicht zu den Ansiedlern gehörten, wurden sie bald zu den Kuterleern gezählt. Von besonderer Schönheit war sie, so auch ihr Heim. Der Fußboden (Erdboden) in Tuns Haus sah glatter, ebener, besser aus als in den anderen Bauernhäusern. Sie kochte die schönste Hühnersuppe, backte den lockersten Butterzwieback und bereitete duftenden Kaffee mit Sahne. Tun, ein netter, beweglicher Mann, ehemaliger Verwalter eines Gutsbesitzers, war auch ein guter Handwerker. Ihr Sohn Johann hatte die Schönheit seiner Mutter und den heiteren Geist, die Tapferkeit und Beweglichkeit des Vaters geerbt. Aber er verließ Kuterlja als ein Bauer, das Liebesband zwischen ihm und Lena Penner zerriss.

Die Reihen der Entschlafenen schildern auch die schwersten Jahre der Geschichte. Kurze Kindergräber waren mehr als in den letzten Reihen der Verstorbenen, dank besserer medizinischer Betreuung. Viele Kindergräber gab es in den sechsten und siebten Reihen, in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Dieses waren nicht nur Gräber der Bewohner von Kuterlja, sondern auch Gräber der Flüchtlinge aus Österreich, Deutschland und von der Memel. Wie hatten die Flüchtlinge gestaunt über die unendlichen Steppen, Felder, die hohen Strohhaufen auf jedem Hof und über das große Weißbrot, welches die Hausfrau nicht ohne männliche Hilfe aus dem Backofen zu ziehen vermochte. Nach und nach kehrten sie wieder heim.

Der erstgeborene Bewohner des Dorfes soll ein Knabe gewesen sein, der gleich starb und diesen Friedhof eröffnete. Zu den Erstgeborenen von 1892 gehörte auch Katarina Derksen welche nie in die Ehe getreten war Ernst, schweigsam, tüchtig und einsam lebte sie dahin bis zum 76. Lebensjahr. Ihre Uhr, die noch aus Holland stammte, wurde ins Museum der Kollektivgewerkschaft abgegeben. Auch Katarina Martens geb. 1892, eine 80-jährige Jungfer ruht hier in den letzten Reihen. Die beiden alten Jungfern gingen dunkel gekleidet, mit sauberen, gebügelten, schwarzen Schürzen, aus deren Taschen weiße, zusammengelegte Taschentücher sichtbar waren, um den Kopf ein Beschtuch.

Das vierte Haus vom Ende des Dorfes gehörte einst Johann Görzen, welches erst abbrannte, dann ausbrannte. Es hatte zur Folge, dass das Dorf sich um einen Feuerwehrmann kümmerte. Auf Schultebott am Anfang des Jahrhunderts wurde beschlossen zwei Lehmkaten auf dem südlichen Ende des Dorfes zu bauen: eine für den Hirten, die andere für den Feuerwehrmann.

Der erste Feuerwehrmann war Klaß Unger, der weder Land, Wirtschaft noch Verwandte hatte. Sein einziges Eigentum war sein Weib und sein schönes Töchterchen Tinchen. Wenn die Dämmerung sich auf Kuterlja niederließ und die Finsternis noch nicht eingetreten war, im "Twedista," verließ Onkel Klaß seine Lehmkate. Dann musste er mit einem Gerät, das einem Kinderspielzeug ähnlich war, anfangen zu klappern. Niemand hatte dann Sorgen, denn der Nachtwächter war auf seinem Posten. Onkel Klaß vermied dann auch Pferdediebstahl, klopfte rechtlich bei Gerhard Fast am Eckstubenfenster und riet dem Bauern gleich nachzureiten, da die Diebe noch nicht weit seien. Am anderen Tage ging er wie ein Held im Dorfe, aber die Dankbarkeit war bald vergessen. Es kam auch vor, dass auf dem Schultebott über Onkel Klaß gescholten wurde. Man beschuldigte ihn, dass dann und wann das Geklapper gefehlt habe, und Onkel Klaß habe wahrscheinlich geschlafen. Folglich setzte Onkel KIaß sich am nächsten Abend unter das Fenster des Empörten und klapperte so laut und lange, bis der Wirt schließlich die Vordertür öffnete und rief: "Ich höre schon. Jetzt reicht es." Aber bei hellem Tag brannte die Lehmkate des Wächters ab und Klaß Unger verließ Kuterlja. Die Kate wurde nicht mehr restauriert.

Mein Schwiegervater Heinrich Nachtigal lag in einem Sarkophag aus Zement und Sand gegossen. Dieser wunderbare Mann war weit und breit bekannt, denn er hatte viele Freunde unter allen Nationen. Mit jedem sprach er in dessen Muttersprache, denn er beherrschte die plattdeutsche, hochdeutsche, russische, baschkirische und tatarische Sprache. Es machte ihm große Freude die Feste anderer Völker zu besuchen, welches eine Seltenheit unter den Mennoniten war. "Über alles in der Welt muss man die Freiheit lieben." rief er oft aus und: "Merkt euch, dass Armut und Abhängigkeit rechte Geschwister sind und stehen weit entfernt von der Freiheit." Er gehörte zu den reichsten Männern des Dorfes und gab folglich auch am meisten Land, Pferde, Kühe und Maschinen in die Kollektivwirtschaft hinein. Er starb im Februar 1953 mit 74 Jahren. Seit dem besserte sich das Leben auf dem Lande. Heute würde er staunen über die großen Bauten und Komplexe, über den Wohlstand seiner Nachkommen.

Der Sarkophag meiner Schwiegermutter Susanna Nachtigal erinnerte mich daran, wie sich dieses Ehepaar durch ihre Verschiedenheiten ergänzte. Der Mann redselig, wissbegierig, heiter, mit großem Interesse für die Welt. Die Frau schweigsam, arbeitsam, pünktlich, mit Interesse für Mann, Kinder, Großkinder. Sie war nur bedacht auf das Wohlergehen und die Ernährung der Ihren. Ging es laut und bunt in der Familie her, wenn alle lachten und scherzten, so war sie dennoch schweigsam und nüchtern und sorgte für Ordnung, Frieden, Speise und Trank. Mamii und Papii nannten wir sie.

Johann Nickel kam als zehnjähriger Knabe, wie auch H. Nachtigal, mit seinen Eltern nach Kuterlja, ein lustiges Kind und fähiger Schüler. Er verstand Vierzeiler, Scherze, Späße, Gleichnisse passend anzuführen. In der Einzelwirtschaft hatte er nicht nach Reichtum gestrebt. In der Kollektivwirtschaft stand er immer seinen Mann, führte die Rechnungen, nahm Getreide auf der Tenne an und wog es auf einer Waage. Diese bestand aus einem Querbalken, an einem Ende mit einem großes eisernes Gefäß und am anderen Ende die Gewichte. Fr sorgte für Ordnung auf der Tenne. Wenn er guter Laune war, meinte er, dass die plattdeutsche Sprache die wahrhaftigste Sprache der Welt sei. Lange Zeit wurde alles "Geschriebene" wie Begräbnisbriefe, Hochzeitsbriefe, Bittschriften und Dankesbriefe von ihm verfertigt. Vieles von ihm Gesagte lebte fort und wurde zum Sprichwort..

Den Gartenbau liebte er nicht so wie seine Ehefrau, Helena Nickel, die jedes Korn sorgfältig in die Erde legte und dann mit der flachen Hand die Erde in Liebe fest klopfte. Sie war die Tochter des P. Suckau, der die "Kaiserkrone" einst pflanzte. Als ich ihn mit seinen 83 Jahren besuchte, war er noch rüstig und lebensfroh. Er erzählte Verschiedenes aus alten, guten Zeiten, wie die Mennoniten arm in Russland eingewandert waren, wie sie durch große Tüchtigkeit zum Wohlstand aufgestiegen seien, wie sie sich ausgebreitet hatten im Süden und im Osten Russlands, sogar am Amur. Aber er meinte, besser als jetzt hätten die Menschen nie gelebt, denn alle waren gekleidet und alle wohl ernährt ohne sich abzurackern. Das Leben war schön geworden. Seine Frau verstarb früh. Bis 80 Jahre war er Deputierter des Dorfsowjets. Zu den Sitzungen und Versammlungen erschien er immer rechtzeitig und sagte jedes Mal: "Der älteste Deputierte ist erschienen, wo sind die jüngeren?" Was beschlossen wurde, musste durchgeführt werden, und er tat dazu das seine. Als ich ihn zum letzten Mal besuchte, saß der 88-jährige Greis auf einem Rollstuhl, sehr taub, mit schwachem Augenlicht. Auf dem Tisch lag aufgeschlagen die Bibel, auf welcher eine Lupe lag. "Weißt du,." sagte er" leben kann man ohne Gott, nur sterben möchte ich nicht ohne ihn." Er lobte das Leben, seine Kinder und Großkinder, bei denen er ein gesegnetes Alter gehabt hatte, und äußerte den Wunsch heim zu gehen.

Auch Johann Thießen kannte den schweren Anfang der Ansiedler in den Samarischen Steppen. Berichtete die "Friedenstimme", organisiert 1902, oder "Unser Blatt" über das Leben der Ansiedler, so hieß es da: in "Neu Samara, Kreis Busuluk." Nach Kuterlja war die Familie Thießen erst später von einem Gutshofe übergesiedelt, als die Gutshöfe geplündert wurden. Alle zwölf Kinder waren groß von Wuchs, blond, schlank, mit einem Schönheitsgefühl. Die Hälfte der Kinder verabschiedeten sich von den Eltern und Geschwistern und zog nach Kanada.

Er selbst war ein netter Mann, beweglich, redselig und zufrieden. Die Frauen des Dorfes holten gerne aus seinem Brunnen Wasser, denn das "Thießenswasser" war weicher als das Wasser anderer Dorfbrunnen. Thießens waren unsere Nachbarn an der nördlichen Seite. Eines Morgens (1928- 29) nannte Onkel Thießen laut meinen Namen auf seinem Hofe und winkte mir mit dem Zeigefinger. Rasch lief ich hin. "Was machst du denn?" fragte er. "Ich baue Häuser im Sand!" "Bauen, Kind, ist immer gut, komm mal mit, ich habe ein Geschenk für dich." Aus der Vorratskammer in der Küche holte er mir einen großen Packen alter Fotos, andere Bilder und feine, mit Gold verzierte Wunschumschläge. Da wir in den zwanziger Jahren mit gekauftem Spielzeug nicht verdorben wurden, diente alles als Spielzeug: Fläschchen, Gemüse, Blätter. Gewiss würden auch diese Fotos sich gut dazu eignen. Damals vernichteten viele Leute vorsichtshalber Papiere, Fotos, Dokumente und Bücher. Als ich endlich des Bauens satt wurde, raffte ich meine Schätze zusammen um meinen Reichtum den Eltern zu zeigen. Die Eltern schauten auf die Bilder und erkannten sogleich wo sie her waren: von Ufa, vom Süden, von der Krim und Sibirien. Es waren viele Familienbilder, ein Bild einer mennonitischen Wirtschaft aus dem Süden, mit einem Giebel aus Ziegeln und ein Ziegelzaun um den Vorgarten, auf dem Hof eine Querscheune, an der Schmiede trieb man dem Pferd das Hufeisen an. "Mutter, Vater, weshalb sind in Kuterlja nicht solche schönen Häuser?" fragte ich. "Das Dorf Kuterlja war noch zu jung, dann kam der Krieg" war die Antwort.

Die Bilder mit verschiedenen Maschinen wie Binder, Dreschmaschinen und Pflügen, interessierten meinen Bruder. Mir gefiel das Bild mit den zwei Geschwistern: ein Mädchen im weißen Kleid und ein Knabe im schwarzen Anzug, mit weißen Knöpfen an den Höschen! Sie trugen feine Schuhe, mit Riemen über den Fuß. Sie waren nicht zu vergleichen mit meinen kleinen Holzpantoffeln, die Vater selbst anfertigte und Mama mit etwas Schwarzem anstrich, damit sie weicher waren. Sie sahen auch wunderschön aus, aber waren nicht zu vergleichen mit den Schuhen des Mädchens. Auf einem Bild war das Schweineschlachten dargestellt: Das fette Schwein, dem die Eingeweide entnommen waren, hängend, die Bauern ruhend, die Kinder beschäftigt mit dem Aufblasen der Harnblase, genau so wie in Kuterlja. Das wichtigste Bild war für mich ein Brautpaar, das sich fest an den Händen hielt. Die Braut im langen weißen Kleid, der Schleier schön auf der Erde zurechtgelegt, der Bräutigam ernst, hochaufgerichtet stehend, im schwarzen Anzug. In den Maschinen sah mein Bruder seine Zukunft, in der Liebe des Brautpaares sah ich meine.

Zu den Ansiedlern des Dorfes zählte man auch Gerhard und Liese Fast, die von der Molotschna mit ihren sechs erwachsenen Töchtern und zwei Söhnen nach Neu Samara zogen. Sie waren meine Urgroßeltern von mütterlicher Seite. Die erste Silberne Hochzeit, welche Kuterlja feierte, war die Hochzeit meiner Urgroßeltern, welche zusammenfiel mit der Grünen Hochzeit meiner Großeltern Abram und Liese Epp. Ihr Haus steht heute noch da, weit entfernt von der Straße. Sollte der Urgroßvater sein Haus besuchen, so würde er wohl mit Wehe im Herzen seine Nachkommen fragen: "Wo sind all die mennonistischen Möbel geblieben? Wo ist das Ausziehbett, die Schlafbänke, die man tagsüber zusammen schob und zudeckte wie eine Kiste, wo steht die Kommode und der Ausziehtisch, an welchem meine große Familie speiste? Alles war stabil und aus gutem Holz gemacht und sollte noch lange den Kindern und Großkindern dienen. Diese neuen Möbel sind von solchem dünnem Holz oder gepresstem Papier, die nicht mal ein Menschenleben lang aushalten, nur der Glanz ist gut. Wo ist der rote Ziegelherd mit dem gusseisernen Kessel geblieben? Auf jenem weißen Ding, mit so einer kleinen Flamme bereitet ihr heute eure Speisen?".

Sie lebten anfänglich etliche Monate in Sorotschinsk, bis der Frühling den Schnee aus Kuterlja vertrieb. Auf dem 50 Werst langen Weg traf man nur drei russische Dörfer. Zwei Dörfer hatten hohe Kirchen, welche schon von weit zu sehen waren. Als ihr Schlitten Jaschkino verlassen hatte und den Berghügel mit großer Anstrengung hinaufgefahren war, bat Liese ihren Gerhard: "Halt mal die Pferde an und schaue nach, was eigentlich die schwarzen Hügel auf den Feldern bedeuten, es sind so viele von Sorotschinsk an." Gerhard prüfte mit dem Peitschenstiel den Humpel und merkte, dass es fest gepresste Ähren waren, so fest, dass keine Maus vermochte hineinzudringen. Er meinte: "Das verstehen die Russen meisterhaft!" Aber er glaubte doch, dass der Vorrat an Korn auf dem Hausboden sicherer sei als auf dem Feld.

An der nördlichen Seite des Friedhofs lag ein Gemüsegarten, welcher jetzt den Nachkommen des Ansiedlers Heinrich Friesen gehörte und wieder lebte hier ein Heinrich Friesen. An der Westseite des Friedhofs grenzte der Hinterweg des Dorfes, welcher sich auch einem Kollektivfeld entlang zog. Die Abwechslung der Getreidekulturen, die hier angebaut wurden, wurde von den gelehrten Agronomen streng befolgt. In diesem Jahr sollte ein prächtiges Weizenmeer die Kuterleer erfreuen. An der östlichen Seite des Friedhofs ging es immer heiter her: da stand die Schmiede, die Werkstätte, in welcher die Holzarbeit, das Nötige für die Kollektivwirtschaft und für privaten Gebrauch gemacht wurde, hier wurden auch alle Särge für den Friedhof angefertigt. Hier ruhten über Nacht die vielen Traktoren und Mähdrescher. Die große Fläche war das Land des Obergartens, der alten Schule und des Klubhauses: Das Herz des Dorfes. Hier versammelten sich am Morgen die Männer vor Beginn der Arbeit, hier besprachen sie Kollektiv- und Privatsachen, Handel und Preise. Am südlichem Ende grenzte der Friedhof an die Mittelstraße, hinter welcher ein kleines Fichten- und Tannenwäldchen lag, den wir Weihnachtswald nannten. Dieser Wald war uns ein Symbol des ewigen Lebens, denn er grünte im Sommer und im Winter. Gerne spielen Kinder im Wald, und Erwachsene suchen hier Erholung und Vergnügen.

Diesen Wald pflanzte 1910 Jakob Neufeld auf einer Wirtschaft die er vom Ansiedler Lorenz gekauft hatte, Im Frühling fuhr er 100 Kilometer zum Busuluker Wald, kaufte kleine Tannen- und Fichtenpflanzen, bedeckte sie mit feuchter Decke auf dem Wagen und kam nach Kuterlja. "Der Neufeld bringt frische Erde aus Busuluk", lachten die Bewohner über sein Vorhaben. Der Wald aber wuchs heran, steht heute noch grün da und erinnert uns an den Mann, der nicht nur die Natur liebte, sondern auch alles in der Welt: Musik, Kunst und die Frauen. Ohne Lieder und Schönheit wäre ihm das Leben zu öde gewesen. Der Name Neufeld war auch verbunden mit dem Verständnis ein Meister zu sein: mit Holz, Eisen, Elektrizität und Technik.

Jakob Plett gehörte nicht zu den Ansiedlern des Dorfes Kuterlja, sondern Bogomasow, welches fünf Jahre früher angesiedelt wurde. Seine Erzählungen klangen wie Musik, wie Donner oder wie das Rauschen von fließendem Wasser. Schön waren sie immer, auch wenn es sich um einfache Dinge handelte, Mit welchem Geschmack, gepfeffert und gesalzen, erzählte Onkel Plett von den ersten Ansiedlern von Neu Samara. Die zwei Brüder Stobbe unterschieden sich von andern durch hohen Wuchs und gewaltiger Stärke. Die Brüder fuhren zum Markt nach Alt-Gratschowka, um Lebensmittel und Pferde zu kaufen, denn sie konnten von der Molosch nicht alles mitschleppen. Die Russen in ihren Kaftanen, mit den Binden um den Leib, in Wicklern und Bastschuhen umringten die hohen Deutschen und fragten: "Sind alle Menschen, die hier ansiedeln wollen, so groß und stark wie ihr beiden?" "O ja," hatte ein Stobbe geantwortet, "wir beide haben noch 33 Brüder, von welchen wir die kleinsten sind!" Die Russen hatten die Köpfe geschüttelt. Die russischen Bauern beschuldigten die Deutschen, dass diese mit ihrem Kommen die Preise auf den Märkten in die Höhe getrieben hätten. Wenn der deutsche Übersiedler auch nicht reich war, so hatte er doch etwas mehr als der russische Landmann, der erst vor Kurzem von der Leibeigenschaft befreit worden war. Für die reichen russischen Bauern war die Übersiedlung der Mennoniten von Nutzen, denn diese brauchten alles: Vieh, Weizen, Kartoffeln. Die Kartoffeln, die sie sich kauften, waren im Herbst wie Haselnüsse. Aber auf der Neulanderde wuchsen Kartoffeln so groß wie die hölzernen Pantoffeln oder ein Bastschuh.

Onkel Plett erzählte gern vom Försterdienst, wo er seinen Dienstbrüdern auf einem Ziehharmonium mit Löffeln anstatt Knöpfen an der linken Seite vorgespielt hatte. Dreißig Jahre war er Schmied des Dorfes. Keine Frau konnte ohne seine Renovierung von Gefäßen in den schweren Jahren auskommen. Damals ruhte die ganze Kollektivwirtschaft mehr auf dem Schmied als heute. Badete man früher die schwachen Kinder im Schmiedwasser, so brachte diese Heilkunst sie in Berührung mit Eisen. Jakob Plett war stolz auf seinen Beruf und was er in seinem Leben verfertigt hatte.

Gute Sitten herrschten in unserem Dorfe: man hielt es für seine Pflicht, die jungen Leute zu verheiraten und die Verstorbenen zu beerdigen. Auf den Begräbnissen vergaß man die Schwächen, Fehler, Streitereien und Beleidigungen. Hier besang man jeden mit Liedern verschiedenen Inhalts. Die Begräbnislieder priesen alle das Wiedersehen. "Auf Wiedersehen" stand auch auf allen Särgen, dann zwei Buchstaben: Name, Familienname, dann zwei Jahresdaten, durch einen kleinen Strich geteilt, Geburts- und Todesjahr. Als Mädchen malte ich auf einem Deckel mit Zahnpulver: "H. N. 1858-1946." In den ersten Jahren starben viele an Defterit (Diphtherie). Man behauptete, dass der erste Bazillus der Diphtherie in einem Brief aus Sibirien gekommen sei. Heute ist dieser Bazillus bekämpft, wie auch die Lungenkrankheit Tuberkulose. In den mittleren Reihen des Friedhofes ruhten viele, die an Typhus starben. Heute sterben Menschen an Krebs und hohem Blutdruck. Letzteres bekämpften unsere Großeltern durch "Adern lassen" mit einem kleinem "Beilchen"' das sie Flett nannten. Werden die Menschen einst befreit von allen Krankheiten, um dann im hohen Alter durch allmähliches Ableben zu sterben? Maßloser Genuss, große Liebe oder Selbstliebe, Kummer und Leiden verkürzten den Lebenslauf. Die Gräber von hohen Greisen aber lehrten, dass diese Menschen die Arbeit liebten, und natürlich lebten.

Die Greisin Anna Heide, eine heitere Frau liebte die Tat, die Arbeit, sogar den Handel. Das irdische Leben hatte für sie größere Bedeutung als das Jenseits, aber auch sie wollte mit ihren 83 Jahren heim. Sie meinte, dass in den Jahren der Ansiedlung die Lieder einen schöneren Klang hatten, und man lustiger lachte als jetzt. Sogar das Brot war drei Mal so hoch wie heute, da der Weizen nicht in Berührung mit Metall kam, da man mit dem Ausfahrtstein gedroschen hatte. Sie war dankbar, dass ihr Gatte Heinrich ihr vorangegangen war und dass sie beim Sterben keine Sorgen um Mann oder Kinder hatte. In den ersten Jahren waren sie sehr betrübt über Kinderlosigkeit, aber desto größer war ihre Liebe zu einem Knaben, welchen sie von klein auf erzogen hatte. Heute noch steht das Haus in voller neun Meter Breite mit dem hohen Giebel mit einem Giebelfenster, in welchem die jungen Jahre des Heinrich Heide verliefen. Das erste Haus der Straße, gehörte Kornelius Heide, dem Vater von Heinrich und Martin Heide und ihren drei Schwestern. Für die Kuterleer verkörpert der Name Heide Friedfertigkeit. Die Wurzeln der Friedfertigkeit wurden in den vielen Nachkommen von Heide nicht erstickt, sie trugen Blüten in Menschen, die längst auch andere Namen tragen. Als 15-jähriges Mädchen harkte ich mit einer großen Schleppharke das Getreide in der Erntezeit zusammen und Onkel Heide lud es auf den Leiterwagen. War der lange Wagen voll, klappte er die Leitern des Wagens an beiden Seiten auf. Er mochte nicht den Wagen halbvoll ins Dorf bringen, um viele Wagen gebracht zu haben. Er war nicht redselig, aber kam er in Schwung, war er schwer aufzuhalten.

Er erzählte mir über den Försterdienst der wehrlosen Mennoniten in Russland, über die Bedeutung des Försterdienstes für das Reich, und über die Bedeutung des Försterdienstes für die mennonitische Gesellschaft. Die Förstereien lehrten die Ackersleute über Waldbau und Gartenbau. Wichtig war ihm, dass es in der Försterei in Vielem wie zu Hause war: Man speiste wie daheim, hatte am Sonntag Andacht, an Feiertagen gab es Zwieback, Obstsuppe, Schinkenfleisch und Senf. Er rundete die hohe Kornfuhre mit der großen englischen Gabel ab. Dann fuhr er Schritt für Schritt den Berg hinab zum Dorfe, indem er die Leine steif anzog und sich mit den Füßen fest gegen den Querbalken des Leiterwagens stemmte. Er meinte, dass solche, die nicht verstanden mit Pferden umzugehen, erfahren könnten, dass der Wagen mit den Rädern nach oben zu liegen kam, die Seile zerrissen und die Pferde davon liefen. Ich schaute von oben auf das Dorf mit lieblichen Strohdächern, Gärten, Hecken, Zäunen und ebener Straße. So arbeitete ich viele Tage mit ihm und er erzählte Interessantes aus dem Försterdienst. Von solchen wie Onkel Heide, pflegte H. Wiebe zu sagen, dass er nicht am Weltkrieg Schuld habe, weil er nach Frieden strebte und nicht nach Zank und Streit. Heide war ein Mann mir gutem Herzen, der treu in der Kollektivwirtschaft arbeitete.

Das dritte Haus des Dorfes gehörte dem Ansiedler Janzen, der trotz aller Arbeit und Mühe nicht auf einen grünen Zweig kam. Seine Frau liebte den Gartenbau, wie auch die Blumenzucht. An der Straße in ihrem Garten steht die einzige Eberesche des Dorfes, die zu allen Jahreszeiten schön ist, im Sommer durch ihre Blätter, im Herbst durch rote Beeren, die wir in der Kindheit für giftig hielten, und im Winter durch den Reif, der wunderliche fantastische Formen machte, anders als auf anderen Bäumen. Über alles aber liebte Frau Janzen den duftenden Kaffee, besonders in fremden Häusern. Mein Großvater A. Epp belehrte oft Weib und Töchter die Blumen zu lieben und nicht zu plaudern. Die Arbeitstasche, in welcher Wollknäuel und Stricknadeln waren, kannte jede im Dorfe. Blühten jeden Frühling die Lilien, Tulpen und Begonien, so erinnerte man sich unwillkürlich an sie. Sie starb bei ihrer Tochter Lieschen in der Orenburger Ansiedlung. Ihre Tochter Suse, mit ihrem Martens Hermann, verließen Kuterlja um ihr Glück in Kanada zu suchen.

Unter einer bekannten Esche ruhte Gerhard Unger. Seine Ehefrau Aganeta Unger lag 60 cm von ihm entfernt, in der davor liegenden Reihe. Von allen meinen Onkeln liebte ich den Onkel Jät wohl am meisten, wahrscheinlich für seine Originalität, schlagfertig in Wort und Tat. Er suchte nie den Nutzen oder Vorteil für sich. Das verteidigen seiner Ansichten spielte für ihn eine größere Rolle als der Gewinn. Handelte es sich um das Verteidigen seiner Prinzipien, so pflegte man im Dorf zu sagen, dass das Wasser bei ihm bergauf laufe. Am Frauentag pflegte er auszurufen: "Sie gehört der Familie und nicht dem Staat. Wehe dem Lande, wo Frauen und Knaben regieren." In den Kriegsjahren auf den Arbeitsfronten, meinte er, dass seine Frau, Tante Netje ruhig zu Hause bleiben und sich nicht auf Bahnstationen herum treiben sollte. Weil er nie krank war, glaubte er auch nicht an Medizin oder Arzte. Als er mit seinen 70 Jahren erkrankte, tröstete er die Angehörigen, "ich bin alt und muss davon." Über alles bebte Onkel Jät die Pferde, die er am Ende des Dorfes auf einer runden Bahn dressierte. Die Pferdezucht stand in Kuterlja auf einer höheren Stufe als in naheliegenden Dörfern. Als jemand behauptete, dass das Pferd bald im Museum stehen würde, meinte er, wenn die Zeit eintreten sollte, würde das Kommen des Herrn nahe sein. In den letzten Jahren seines Lebens bewachte Onkel Jät pflichtgetreu die Getreide des Dorfes, wo ich ihn dann manchmal besuchte, um ihn am Sonnabend mit frischem Gebäck zu erfreuen. Er liebte die Unterhaltung und zitierte die Worte eines Liedes: "Über den Sternen, da wird es einst tagen." Er sagte, er ertrage schlecht Schwätzer oder Heuchler. Von allen Lehren und Religionen erkannte er nur die Lehre des Mennon: Wahrhaftigkeit, Friedfertigkeit, Freigebigkeit, ohne Schwert und Blutvergießen.

Onkel Gerhard lebte lange arm mit seiner großen Familie, aber starb in guten, weißen Betten. Er lobte und dankte für den Wohlstand, der den Menschen zuteil geworden war. Mit dem großen Gott, zu dem er inniglich betete, hatte er seine eigene Rechnung, um welche andere für sich sorgen, um bei Ihm Gnade zu erflehen. Auf seinem Sterbebett sang er halblaut: "Gnade muss es sein, Gnade ganz allein".

Ich ging zum vergessenen Grabhügel der Katarina Adrian. Durch eine Gehirnhautentzündung im Kindesalter hatte sie nur eine kindliche Denkweise, einen dicken, abgerundeten Körper und eine grobe Stimme. Da sie aber sehr stark war, wurde sie der Kollektivwirtschaft zum Nutzen. So musste Tante Tin immer da stehen, wo der Kampf am härtesten war, beim Stroh und Spreu der Dreschmaschine. Sie weinte dann auch, warf die Gabel ins Stroh, empörte sich aber es blieb dabei. Im Herbst, wenn sie mit vier Metern Kattun für ein Kleid prämiert wurde, vergaß sie auch die Beleidigungen und an langen Winterabenden sehnte sie sich nach dem heißen Sommer, nach der Dreschmaschine. Die weniger kluge Katarina Adrian war stolz auf ihre Arbeit, mit der sie besser fertig wurde als viele andere Mädels des Dorfes. Sie liebte die Freud- und Trauerfeste, zu welchen jedermann geladen wurde, ohne Ansehen der Person. Am liebsten sammelte sie Fotografien von den Bewohnern des Dorfes. Sie beruhigte sich als man sie tröstete, dass der junge Hans Unger auch sie nach ihrem Tode fotografieren würde. Wir nannten sie schwach, weil sie nicht fähig war das Falsche, das Tückische, das Pharisäische in den Erwachsenen zu erkennen. Ihr Leiden wurde schwerer und 1969 wurden die Verwandten von Tante Tin erlöst. Sie wurde beerdigt wie alle anderen im Dorfe. Sechs Männer vermochten kaum, den schweren Sarg auf die Bahre zu bringen. Auf dem Friedhof sangen wir: "Sehen wir uns an jenem Ufer, wo die Lebensbäume blühn." Hier am Grabe schämte ich mich, denn der Spruch: "Werdet wie die Kinder" konnte hier buchstäblich aufgefasst werden.

Der Grabhügel des Heinrich Wedel erinnerte mich an einen starken Mann mit festen Überzeugungen und einem schweren Gang. Alle Motoren, Dreschmaschinen, Mühlen und anderes arbeiteten unter seiner Leitung. An seinem Grabe erinnerte ich mich einer Begebenheit in den dreißiger Jahren.

Ich durfte zur Stadt Orenburg mit meinem Papa, der mit Wedel und anderen zum Dienst reiste. Nach Beendung der Tagesarbeit durften auch wir Landbewohner uns in dem großen schönen Park der Stadt des Lebens freuen. Hier schien helles Licht, welches es in Kuterlja nicht gab. Die Hornmusik schallte ganz anders als die weichen Töne des Fußharmoniums zu Hause. Das Interessanteste waren die vielen schön gekleideten Menschen. Wie schienen mir all diese Menschen glücklich zu sein, denn die lachten und scherzten miteinander dort an jener Fontaine bei den Blumen! "Kind, sei aufmerksamer, dass wir uns hier im Getümmel nicht verlieren," warnte mein Papa. Heinrich Wedel liebte Musik und Gesang, doch er pflegte sie selbst nicht. Vor allem aber liebte er das Schöne in der Natur und in den Menschen. Er gehörte zu den Ersten, die in den Nachkriegsjahren die Obstbäume wieder zum Leben brachte und ihm folgten dann fast alle Dorfbewohner.

Am Kopfende eines anderen Grabes wuchs ein hoher Baum, der in Kuterlja unbegründet Brotbaum genannt wurde. Auf dem Täfelchen standen zwei Buchstaben in gotischer Schrift "K. G. 1895-1960", und die Inschrift: "Überwunden durch das Lammes Blut." Hier ruhten viele Gläubige, wohl keine Abergläubigen. Der Aberglaube verschwand mit dem Fortschritt, aber nicht die Religion, welches die Worte auf den Täfelchen der Verstorbenen bewiesen.

Kinder und viele Jugendliche buchstabierten diese Worte und verstanden den Sinn nicht. Auch mein Sohn nicht. Er meinte die Revolution wurde erkämpft durch das Blut von Tausenden. Katarina Görzen glaubte, dass Fleisch und Geist zwei geteilte Substanzen waren und nicht eins, wie der Materialismus lehrte. Für ihre feste Überzeugung und öffentliche Behauptung wurde sie 1951 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie wurde verschiedener feindseliger Taten beschuldigt, von welchen sie keine Ahnung hatte, da sie in großer Armut und schwerer Arbeit als Kälberwärterin mit ihren Kindern zusammen ihr Dasein fristete, denn der Vater war schon 1935 der Familie entrissen worden. In den schweren Kriegsjahren war das Erhalten der Kälberherde keine leichte Sache. Wie freute sich K. G. über die Erfindungsgabe ihrer Kinder, die sich an kalten Herbsttagen ihre bloßen Füße in den warmen dünstenden Kälberdreck zu wärmen verstanden, um vor Erkrankung und Erkältung bewahrt zu bleiben. 1955 kehrte sie zurück nach Kuterlja, ohne jeglichen Hass oder Beschuldigung. Niemand im Dorfe sah sie jemals erbost. Vom Morgen bis zum Abend war sie stets bemüht, sich selbst zu bekämpfen, denn "nur was Du hebend getan, wird bestehen", wiederholte sie aufs neue. Dort in den Gefängnissen hatte sie am stärksten erfahren wie groß die Macht der Liebe sei, denn Frauenherzen, die mit Hass und Bosheit umgeben waren, waren durch Liebe zu erweichen. Sie bekämpfte beständig ihre Abscheu und ihren Hass gegen die Unmenschen und stellte sich immer aufs Neue die Frage: "Wie hätte Jesus gehandelt?".

Jetzt stand ich zwischen den Gräbern der Katarina Görzen und Heinrich Wedel. Sie starben an dem selben Tag, aber jeder hatte seinen Begräbnistag, zu welchem alle Bewohner des Dorfes erschienen. Ihre Persönlichkeiten waren grundverschieden. Wedel war eine Kraft, K. G. ohne Kraft aber eine Macht. Wedel sorgte für den Wohlstand im irdischen Leben, K. G. für das Wohlergehen im Jenseits.

Ich fand den Grabhügel des Kuterleer Johann Epp. Er war ein hoher Mann mit einem sanften Blick und einer weichen, wunderbaren Stimme. Er fühlte sich berufen auf Festen den Gesang zu führen. Wohlwollend, nicht aufdringlich, leitete er den Gesang ein, selbst ging er in den Tenor über, und alle fühlten seine feste laute Stimme, der auch der schlechteste Sänger sicher folgte. Als Pferdewärter des Dorfes verstand Onkel Epp auch die streitbare Frage im Gebrauch der Tiere friedlich zu lösen, sowie zum Nutzen der Pferde als auch der Kollektivisten. "Einem jedem das Seine", erwiderte er als ich seine wunderschöne Stimme lobte. Er sagte es einfach, ohne jegliche Prahlerei und fügte langsam hinzu, dass er immer mit sich kämpfen musste, um nicht die Starken, Klugen, Schönen und Tapferen zu beneiden. Im Geist sah ich ihn, wie er 1943 im Molotower Gebiet auf der Kohlengrube 76 aussah: mit beiden mageren Händen führte er ein Stück Brot mit draufgelegter Butter, das ihm seine Frau geschickt hatte, zum Munde. Die Tränen rollten von den Wangen auf die Butter, dann verzehrte er alles gierig: Geschmiertes Brot mit Tränen zusammen, erfreut über dieses teuerste Geschenk. Nach dem Krieg kehrte er heim und war wieder der Vorsänger auf Freud- und Trauerfesten. "5.000 Menschen speist der Herr, mit wenig Brot und Fisch, O, komme Du Gesegneter, und segne unser Tisch, und segne unsern Tisch..." sang er lauter als alle anderen vor den Mahlzeiten auf den Festen.

Seine Schwester Maria Pankratz hatte auch eine wunderschöne Stimme und sang, trotz großer Armut, schon am frühen Morgen. Auf der Straße blieb man stehen, um ihren Tönen zu lauschen. Drei Söhne hatte Frau Pankratz in den vierziger Jahren zum Friedhof gebracht und ihren Mann, Heinrich Pankratz, hatte sie seit dieser Zeit auch nie mehr gesehen. Am frühen Morgen, des 6. November 1942, versammelten sich alle Bewohner des Dorfes beim Pferdestall, auch Eppenstall genannt, zum Abschied von den Mobilisierten. Das war die zweite Mobilisierung, die nach Norden in die Kohlenschächte ging. Das Gepäck wurde auf den langen Leiterwagen geladen. Trotz der großen Menschenmenge war es nicht laut. Onkel Pankratz betrat als erster den Leiterwagen, hob eine Hand auf und richtete sich mit zitternder Stimme an alle Versammelten: "Teure Kuterleer! Ich bin oft hart und grob gewesen! Verzeiht es mir, bitte! Ich hab' es nicht böse gemeint!" Niemand achtete besonders auf seine Worte, denn alle waren beschäftigt mit dem ihrigen: Mütter mit Söhnen, Frauen mit jungen und alten Männern, Mädchen mit ihren Jünglingen oder Freunden, Verwandten. Dann ging der Leiterwagen vom Hof. Hatte Heinrich Pankratz es geahnt, dass er Kuterlja zum letzten Mal sah, so dass er ein Verlangen hatte, von allen in Frieden zu scheiden? Seine Knochen ruhen in einem tiefen Schacht, unter den hohen Fichten des Nordens, aber seine Frau Maria hatte ein gut gepflegtes Grab. Der Wohlstand kehrte schließlich auch in das Haus von Frau Pankratz ein: schöne Zimmer, Möbel, Kleidung und Nahrungsmittel im Überfluss. Sie wurde in Liebe von ihren Kindern auf Händen und Wägelchen zum Tempel getragen. Nicht jeder Mutter wird solche Liebe zu Teil.

Gerhard Thießen und Nickolai Pauls stammten aus dem Süden, aus Rudnerweide und Franztal. Beide liebten die Arbeit, Ordnung und den Frieden. Deshalb hatten sie wahrscheinlich den Süden verlassen, denn dort entwickelte sich der Klassenkampf in den Jahren der Kollektivierung zu größeren Widersprüchen als in den ärmeren Dörfern der samarischen Steppen. Weil sie Zimmermänner und feine Tischler waren, entstanden alle Bauten im Kolchos in den dreißiger und vierziger Jahren unter ihrer Leitung. N. Pauls führte auch die Bienenzucht im Dorf ein, denn von der Ansiedlung her bis 1933, gab es nicht einen Imker. Wie Milch und Blut war der Honig in den Jahren der Ansiedlung geflossen, da die Neulandsteppen reich an verschiedenen Blumen waren.

Der alte Onkel Abram Schartner hatte ein gutes, arbeitsames Leben geführt. Er war ein Ansiedler des Dorfes Podolsk und nicht Kuterlja. Seine Aussprache war polnischer Herkunft, bestätigt durch ein Tagebuch seines Vaters aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die krausen gotischen Buchstaben dieses Tagebuches waren nur mit großer Mühe zu entziffern. Das merkwürdigste in diesem 150 Jahre alten Tagebuch war, dass die Mennoniten in Polen einen großen Wert darauf legten, unter welchem Sternzeichen sie geboren waren (Krebs, Löwe u. a.). Onkel Schartner zählte man zu den wohlhabendsten Bauern des Dorfes Podolsk. Im Jahre 1930 wurde seine Wirtschaft verallgemeinert. Ein viertel Jahrhundert lebte er noch in Kuterlja, still, zurückhaltend, in Erinnerungen an seine 40-jährige opfernde Arbeit in Podolsk. Er besorgte fleißig seinen kleinen Garten, seine Kuh und Geflügel und bedauerte die Zukunft, wenn er das Treiben auf dem Kolchoshof beobachtete. "Bei dem Abrunden der Ecken der Felder bleibt schließlich ganz wenig Land für den Weizen." sagte er, wenn er die Felder beschaute. Aber ich dachte die Bauern lebten gut und hatten alle genügend Brot und Butter.

Zunächst meldete eine große Tafel: "Hier ruhen in Frieden Abram und Anna Schartner." Abram war der älteste Sohn des alten Schartners. Bei ihm und seiner Ehefrau (geb. Neufeld) fand Onkel Schartner an seinem Lebensabend eine Stätte, als man ihm 1930 Haus, Hof, Land und Vieh weg nahm. Seine große schöne Familie fand sich später gut in den neuen Verhältnissen der Sowjetzeit zurecht. Der Alte aber, betete jeden Abend aufs Neue, dass der große Gott ihm helfen möge, seinen Stein im Busen gegen die Sowjetregierung, die ihm alles genommen hatte, los zu werden, denn als ein Mennonit wollte er nicht Rache üben. Der Junior Abram Schartner war lange ein Brigadier in der Kollektivwirtschaft und arbeitete auch als ein Pferdepfleger in einem großen Pferdestall.

Anna Martens (geborene Klassen) war die jüngste Tochter von Ansiedler Abram Klassen und Sara Klassen (geboren 1849 und 1855). Sie stammten aus Friedensruh und Tiegenhagen. Am 19.2.1892 verließen sie Tiegenhagen und kamen am 2.3.1892, ermüdet
von der Reise mit dem Zug, in Neu Samara, Station Sorotschinsk an. Am Anfang lebten sie bei ihren Bekannten und am 30. April siedelten sie auf ihrem Grundstück. Am 22.4. fuhren sie zum ersten Mal aufs Feld, und bauten auch ein Lehmhaus, welches sie im 7. September einweihten. Am 22. Juli wurde der erste Weizen gemäht. Das Tagebuch vom A. Klassen berichtet von seiner vielseitigen Wirtschaft in Neu Samara: Die Stuten und Schweine beigelassen, am 21. Februar die Schafe geschoren. Klassens waren wohl die akkuratesten Bauern des Dorfes. Obwohl in Kuterlja der Familienname Klassen mit der Zeit ausstarb, gab es Leute in anderen Dörfern, die diesen Namen trugen. Sie erhielten einen Beinamen wie "Straumi-Klassen".

Eine heitere Begebenheit aus dem Leben des alten Klassen passierte im Schulgebäude an einem Sonntag Morgen. Prediger Isaak sagte: "Ein Rabbelchen gibt immer wieder ein Rabbelchen. Es gibt Menschen, die immer wieder mit den Sünden der Väter geplagt werden." Bauer Klassen, der wahrscheinlich die verschiedenen Sünden erkannte, empörte sich gegen Bauer Isaak, stand auf, streckte die rechte Hand aus und rief: "Ich weiß schon, wen du meinst!" Dann verließ er eilends das Schulgebäude. Der Segen war an diesem Morgen nicht auf die Gemeinde gefallen. Schweigend gingen alle auseinander. Es kostete Bruder Isaak viel Mühe, dem Klassen zu erklären, er habe nicht ihn persönlich im Auge gehabt, sondern die Schwächen aller Menschenkinder, auch sich selbst. "Sage es dann auch so" war die Antwort des Klassen. Am nächsten Sonntag war Bruder Isaak vorsichtiger mit seiner Predigt und anstatt zu sagen "Es gibt Menschen" sagte er laut und deutlich: "Wir Menschen". Abram Klassen zählte zu den wenigen, die nach 13 schweren Arbeitsjahren am 13.1. 1905 zum Besuch zu ihrer Mutterkolonie fuhren. Aber knapp drei Wochen später war er schon wieder in Kuterlja, denn die Sorgen um die Pferde, Kühe, Schweine und Schafe hatten ihm keine Ruhe gelassen.

Am Grabhügel von Anna Martens erinnerte ich mich an ihren Vater Klassen. Jetzt wohnte schon die dritte Generation in Klassens Haus und immer war hier mennonitische Ordnung und Sauberkeit. Der Ehemann von Anna Jakob Martens war in den Kriegsjahren 1943 am Baikal-Stroj ums Leben gekommen. Die Familie erfuhr es erst 1945 und am 6.2. feierte das ganze Dorf in tiefer Trauer sein Begräbnis. Der Sohn von Abram Klassen, Jakob Klassen, gehörte zu den letzten Mennoniten die nach Neuberdjansk zu einem Försterdienst fuhren.

Nicht weit entfernt war die Erde mit Rosen und Tulpen bepflanzt, unter welchen Helene Schröder und Lilli Pauls ruhten. Diese beiden waren Opfer eines großen Ereignisses im September 1954. Alle Frauen unseres Dorfes waren mit der Wassermelonen-Ernte auf dem Felde beschäftigt, denn nicht jedes Jahr ist günstig für dieses Gemüse. Plötzlich um fünf Uhr abends wurden die Augen durch ein helles Licht für einen Augenblick geblendet. Ein dumpfer Knall schallte und alle Frauen richteten ihre Blicke dem Westen zu. Da stieg ein großer, schwarzer Pilz empor, hoch hinauf zum Himmel, "Die Atombombe, die Atombombe!" riefen alle durcheinander. 70 Kilometer entfernt wurde sie gesprengt. Ein Experiment. Ein starker Wind wehte Blätter, Aste, Karten, Fetzen übers Wassermelonenfeld. Wir staunten alle über das große Wunder, dessen Augenzeugen wir jetzt waren. Einem großen Eichenblatt wollte ich damals nachjagen, denn Eichen gab es bei uns nicht. "Lass das liegen, wir wissen nicht womit es besudelt ist!" rief Helene Schröder mir zu. Ich befolgte ihren Rat. Die hohe Säule verschwand allmählich und wir machten uns wieder an die Arbeit. Lilli Pauls, mit welcher ich damals den Korb mit Wassermelonen trug, rief den Frauen zu: "Frauen, eine herrliche Zeit rückt heran, man sagt, eine Streichholzschachtel voll solchem Brennstoff kann Tausende Dörfer beheizen. Dann wird das Mist formen ein Ende haben, denn das ist für mich die abscheulichste Arbeit." "Ob wir das erleben werden?" hatte Frau Schröder lächelnd bezweifelt. Beide haben es nicht erlebt. Hier ruhten sie nahe beieinander Sie wurden beide Opfer des Krebses, wie viele, viele andere des Dorfes. Die Furcht vor dem Krebs hauste in allen Häusern und die Verstorbenen in der letzte Reihe wurden fast alle krebskrank. Wer kann es bezeugen, wer widerrufen, dass die Atombombe nicht der Schuldner war?

Östlicher auf dem Friedhof befand sich die Ruhestätte einer alten Frau Epp-Schellenberg, auch eine der Ersten in Kuterlja. Sie hatte verschiedene Waisenkinder adoptiert, weil sie kinderlos war, und alle hatten als Erwachsene etwas gemeinsam: Demut, Untertänigkeit. Es gab im Dorf sogar Sprichworte die von Frau Epp stammten. Auch über ihre Männer hatte sie geherrscht wie über die adoptierten Kinder.

Die Besonderheiten im Charakter der Ansiedler erwachten oft in der vierten oder fünften Generation. Dann pflegte man im Dorf zu sagen: "Daut es en achta Panna, Friese, Unga, Kreja, Tews, Thieße, Maures, Wedel oder Suckau." Ein jeder des Dorfes wusste dann was gemeint war. Eine besondere Rolle spielte dieses bei Eheschließungen, wo die Jungen gewarnt wurden. Gott sei dank, bei den Jungen dominierte doch gewöhnlich die Liebe.

In der nordwestlichen Ecke des Friedhofs war ein eingefallener Grabhügel. Es lag da ein Knecht, 1927 begraben, der seine Laster nicht bekämpft hatte. Abends hatte man ihn betrunken gesehen und am Morgen fand Bauer Janzen ihn unter dem Zaun, tot. "Ein Moslemer hat ja auch nichts auf unserem Friedhof verloren" meinte der Nachbar Aber er war ein Mensch und der Hochmut der Mennoniten, die ihn in der Ecke beerdigten war nur Engstirnigkeit. Wie viele gab es, die ihre Armut, die Erniedrigung ihrer Persönlichkeit, ihre Ausbeutung versuchten in Alkohol zu ertränken. Eines stand fest: man hatte auf ihn hinab geschaut. Nach vielen Jahrzehnten würde man schon niemanden in einer Ecke begraben, ob Deutscher oder Russe, Mennonit oder Orthodoxer oder Moslem, ob mit oder ohne Laster. Alle Verstorbenen lagen in Reihe und Glied. Der Friedhof war wohl auf 100 Jahre verrechnet. Es ruhten hier in 85 Jahren in 16 Reihen zu 25 Personen in einer Reihe, durchschnittlich fünf Jahre eine Reihe. Oft fand man in den letzten Reihen die Namen der Verstorbenen der ersten Reihen, Söhne, Töchter, Enkel, Urenkel.

Der Name des Ansiedlers Friesen wiederholte sich auf dem Friedhof drei Mal. Dort in jener Reihe ruhte der Sohn Heinrich Friesen, der als erster Rundfunk im Dorf hatte, ein wahres Zeichen für die neue Technik, auch fuhr er die ersten Autos, die ins Dorf kamen, alles als Laie, aus Liebe zur Technik. Meine Eltern gingen zu Friesens um am Weihnachtsfest ganz geheim bei verschlossenen Türen Liedern aus Deutschland zu lauschen! Am Kriegsanfang 1941, wurden alte Radios eingezogen, damit nur Meldungen aus Moskau verbreitet werden konnten. Heinrich Friesen (geb. 1897) schaute später mit Weh im Herzen auf die junge Generation, die als Kraftfahrer in der Stadt Sorotschinsk lernten und den Bau des Autos besser kannten als er. In jener Reihe ruhte der Sohn des Ansiedlers Peter Friesen (1995). Er war kein Arzt von Bildung, aber ein Tierarzt aus eigenem Beruf. Nicht ein Bauernhaus und die ganze Kollektivwirtschaft kamen aus ohne ihn, denn er wusste über jede Krankheit Bescheid. Nach den Kriegsjahren, als die medizinische Versorgung noch schlecht war, gab er Menschen oft einen guten Rat. Jahrzehnte war Peter Friesen der Leiter einer Milchfarm, wo Ordnung herrschte solange er da war.

Auch der dritte Sohn des Ansiedlers H. Friesen Jakob Friesen ruhte hier. Er hatte wohl den Humor und die Satire vom Vater geerbt. Er hatte sich der neuen Zeit angepasst und ging nicht gegen den Strom in den dreißiger Jahren wie seine Brüder Heinrich und Peter, die als letzte in die Kollektivwirtschaft eintraten. Jakob Friesen war in Kuterlja der erste Rotarmist und diente in der Roten Kavallerie. Also kein Nachfolger von Menno Simons, dessen Lehre gegen einen Dienst in jeglicher Armee war.

Auch der Name des Ansiedlers Heinrich Martens (1897-1991) wiederholte sich hier wohl in die fünfte Generation hinein. Seine Ehefrau war Katharina Martens, geb. Friesen (1895 - 1978). 39 Jahre lebten wir in der Nachbarschaft. Onkel Martens war eine lebendiges Archiv der Vergangenheit, denn seine Erinnerungen waren Episoden der Dorfgeschichte. Lesen und Schreiben konnte er nicht, er schrieb keine Briefe, obwohl er sieben Jahre in der Arbeitsarmee war. Das Land und die Wirtschaft liebte er und war fleißig wie kein zweiter im Dorf. Für die Beheizung des Hauses sorgte er mit Holz sägen und Mist machen. Fünfzig Jahre spielte er allein Domino. Er besuchte nie einen Arzt und zog sich selbst die Zähne mit einem Zwirn aus. Trotz seiner 94 Jahre ist an ihm der Stress des 20. Jahrhunderts vorbeigegangen.

Ein ehemaliger Lehrer, Abram Thießen war in den dreißiger Jahren im Gefängnis und hatte dann eine lange, plagende Krankheit. Lehrer Isaak Kröcker, wurde später Buchhalter der Kollektivwirtschaft, Bis 1930 unterrichteten in Kuterlja Lehrer Sawadski, Lehrer Brucks, Lehrer Reimer, Frau Helene Dück, Lehrer Töws. Alle waren Persönlichkeiten, zu welchen alt und jung hinauf schauten. Lehrer Heinrich Heide war Zeuge als die Kollektivierung im Dorf zustande kam und wurde als erster Abgeordneter aus dem Dorf zu einer Bezirksversammlung geschickt. Die Lehrerinnen der Nachkriegsjahre, gewöhnlich junge Mädchen, wechselten fast jährlich. Unsere Väter und Urväter stellten große Anforderungen an den Lehrer: war er nicht im Stande einen vierstimmigen Gesang in der Schule und im Dorf zu leiten, verstand er nicht eine Ansprache auf Freud- und Trauerfesten zu halten, glich sein Benehmen einem Bauernjungen, so wurde er von den Mächtigen im Dorf entlassen. Der Lehrer, ob ledig oder mit Familie, lebte im Schulgebäude (zwei Zimmer, Küche, Vorzimmer) und musste seinen Beruf verteidigen, damit alle mit Hochachtung zu ihm hinaufschauen konnten.

Mein erster Lehrer, Lehrer Gerhard Thießen stammte aus Rudnerweide, Ukraine. Wir liebten und verehrten ihn von 1931 bis 1934. Nicht nur in das Reich des ABC und des Einmaleins führte er uns, sondern auch in das Reich der Musik. Welch ein Wunder alle Töne des Gesanges mit Ziffern von eins bis sieben zu bezeichnen. Diese Ziffern schrieb Lehrer Thießen dann auf die weißen Tasten des Fußharmoniums und jeder durfte dann das entsprechende Lied nach Ziffern auf diesen Tasten suchen. 135-54321. Dann kam das 2-stimmige Spiel: 3 und 1, 4 und 2,5 und 3, Es klang wunderbar! Auch die Bassstimme dazu mit der linken Hand! Lehrer Thießen verdanke ich, dass ich auf dem Fußharmonium mein Leben lang alles nach den sieben Ziffern spielte, oft auf Trauerfesten, oft auf Freudenfesten.

In einem breiten Grabe ruhten zwei junge Mädchen, die in einer Stunde in dem Teich am südlichen Ende des Dorfes, in der Tränke für das Vieh, ertranken. Sara Fransen und Helene Epp waren junge Backfische, die lustig ins Leben schauten. Auch ohne Telefon im Dorf war es im Nu bekannt, dass man sie im flachen Teich suchte. Nur vier Ertrunkene ruhten in diesem Jahrhundert auf dem Kuterleer Friedhof jeder Fall war ein Schreck für das ganze Dorf. Jetzt dachte ich mehr an die Mütter der Ertrunkenen, auch eine Sara Fransen (geb. Görzen). Keine zweite Frau im Dorf hatte so viel Kummer und Schmerz erfahren. Gleich nach ihrer Heirat 1930 wollte ihr Ehemann Peter Fransen seine junge Familie gut ernähren durch tüchtige Arbeit. Er grub einen tiefen Brunnen, drei Meter im Durchmesser. Tag für Tag grub er, auch in heißen Stunden. Die Anstrengung war zu groß, er erkrankte an Rheuma und dann versagten seine unteren Gliedmaßen und vertrockneten. Der Oberkörper aber war gesund und von einem großen Geist geprägt. Zehn Jahre war er bettlägerig, die Frau Sara betreute ihn und die ständig wachsende Familie hatte keinen Versorger. Als Frau Töws den Verstorbenen Peter Fransen in einem Laken mit eigenen Händen zum Sarge trug, um ihn zu kleiden, sagte sie, dass ein einen Meter langer Sarg für den Peter gereicht hätte. Als ich auf den Sargdeckel mit weißer Kreide einen Spruch geschrieben hatte, erinnerte ich mich an ein Gespräch mit Onkel Fransen, dem ich etliche Male eine Hühnersuppe brachte. Wie fest war er im Glauben, keine Spur von Verzweiflung oder Murren. Er sprach mit solcher Liebe zu seinem Heiland, dass ich als junges Mädchen ihn beneidete. Er hatte den tragischen Tod seiner Tochter Sara nicht erlebt. In Armut und bei schwerer Arbeit erzog Sara ihre große Familie zu guten Menschen.

Mehrere Frauen wie Amalie Isaak, Frau Reimer, Frau Dridiger, Aganeta Isaak, Helene Schröder, Suse Park kamen durch Bekannte oder zufällig nach Kuterlja von 1943-47 oder aus Kasachstan oder Sibirien. Alle wurden aus ihrer Heimat 1942 vertrieben, entweder aus der Ukraine, oder aus dem Kaukausus. Ihre Männer waren schon in den dreißiger Jahren der Repression zum Opfer gefallen, dann kam die Aussiedlung in den unbekannten, kalten Osten des Landes. Hier in Kuterlja auf dem Friedhof nahmen die Leiden ein Ende. Aganeta Isaak war eine intelligente Frau, die Frau, Tochter und Enkelin eines Lehrers. Die Familie lsaak hatte sich über die Mittelmäßigkeit der Mennoniten erhoben und sprach Hochdeutsch. Mit Ehemann Johann, Lehrer einer Mittelschule, hatte sie gehofft ihren Kindern eine gute Bildung zu geben. Der große Krieg mit Deutschland zerstörte all diese Träume! Jetzt lebten ihre drei Kinder verstreut im Norden, Sibirien, Ural. Bunt und schwer war das Schicksal des deutschen Volkes in Russland im Verlauf von 200 Jahren. Es gab aber auch kurzfristig gute Zeiten.