Bericht von Katharina Nachtigal
Diesen Text haben wir aus dem "Neu Samara" Buch entnommen. Dort hat er
den Namen "Kuterlja von 1892 -1992: Einnerungen an auserwählte
Verstorbene auf dem Friedhof" verfasst von Katharina Nachtigal, geb.
Unger. Besonders interessant ist dieser Bericht für alle, die
Vorfahren und Verwandte in Kuterlja haben, Katharina Nachtigal
beschreibt darin das Leben vieler Einwohner von Kuterlja der 1. und 2.
Generation, und sie gibt damit guten Einblick in das Dorfleben. Was
mich (Dietrich) am meisten beeindruckte, war der erstaunliche Weitblick
einiger Dorfbewohner, so besaß z.B der Großvater der
Verfasserin ein Buch des französchen Philosophen Voltaire.
Jakob Suckau
Johann und Heinrich Martens
Peter
Nachtigal
Johann Wiebe
Heinrich F. Unger (1851-1919)
Katharina
Unger (1858-1919)
Elisabeth Epp
(geb. Fast) (1874-1919)
Abram Epp
(1862-1938), ehemaliger Dorfschulze
Johann Töws
Heinrich Reimer, Gutsbesitzer
Maria Töws, Hebamme
Maria Töws, Tochter von Maria
Töws
G. J. Wiens, Lehrer
Isaak Derksen, Tischler
Martin Penner
Peter Epp
Abram Krüger
Helene Tun
Katarina Derksen
Johann
Görzen
Klaß Unger, Feuerwehrmann
Heinrich Nachtigal
Susanna Nachtigal
Johann Nickel
Helena Nickel (geb. Suckau)
P. Suckau
Johann Thießen
Gerhard und Liese
Fast
Heinrich Friesen
Jakob Neufeld
Jakob Plett
Anna Heide
Heinrich Heide
Abraham Janzen
Gerhard Unger
Katarina Adrian
Heinrich Wedel
Katarina Görzen
Johann Epp
Maria Pankratz (geb. Epp)
Heinrich Pankratz
Gerhard
Thießen und Nickolai Pauls
Abram Schartner
Anna Martens (geb. Klassen)
Abram Klassen und Sara
Klassen
Prediger Isaak
Jakob Martens
Helene Schröder
und Lilli Pauls
Epp-Schellenberg
Heinrich Friesen, Sohn von
Heinrich Friesen
Peter Friesen
Jakob Friesen
Heinrich Martens (1897-1991)
Lehrer in Kuterlja
Gerhard Thießen, Lehrer
Sara Fransen und Helene Epp
Sara Fransen (geb. Görzen)
Peter Fransen
Amalie Isaak, Frau Reimer,
Frau Dridiger, Aganeta
Isaak, Helene Schröder, Suse Park
Als die ersten Deutschen von der Station Sorotschinsk durch die
russischen Dörfer fuhren, wurden sie neugierig wegen ihren
ringeligen Strümpfen, Hüten und Lederwesten beobachtet, Die
plattdeutschen Mennoniten waren auf dem Land und für das Land
geboren. Die meisten Ansiedler ruhen auf diesem Friedhof, im Staube der
Erde. Aus Erzählungen kannte ich sie alle, an viele erinnerte ich
mich noch selbst. Auf dem Friedhof war am Morgen Totenstille. Auch im
Dorfe war in der Stunde "nach dem Vieh" noch alles ruhig. Aber bald
ging es zur Arbeit. Es schliefen noch die Vögel auf den Eschen und
Fliederbüschen, wie die Kinder im Dorfe. Ich fühlte eine
tiefe Ehrfurcht vor jedem Grabhügel, denn an jedem endet ein
Menschenschicksal. Wie verschieden waren die Schicksale der
Entschlafenen. Hier auf dem Friedhof schienen alle vereint zu sein,
denn an allen Gräbern wurden ein und die selben rührenden
Lieder gesungen. Obzwar alles still war, klang es mir in den Ohren:
"Das Leben gleicht dem Sommertag, ist licht- und schattenreich." Wurde
ein Greis begraben, sang man: "Wehrlos und verlassen sehnt sich oft
mein Herz nach stiller Ruh." Vierstimmig tönte ein anderes Lied:
"Die Zeit ist kurz, o Mensch sei weise." Die Worte "Der Kluge wirket
und gewinnet, verbringt die Zeit mit Gutes tun." erweckte in jedem das
Verlangen, besser zu werden. Denn wer konnte sich rühmen, dass er
nur Gutes tat?. Ähnliche Lieder gab es viele und
Begräbnislieder wurden in Dur gesungen, kein einziges in Moll. In
80 Jahren waren es 16 Reihen der Entschlafenen, alle dem Osten
zugewandt, denn die aufgehende Sonne ist ein Symbol der Unsterblichkeit.
In der fünften Reihe, unter einer Esche ruht Jakob Suckau,
dessen
schöne Kaiserkrone mich am frühen Morgen erfreut hatte.
Manche hatten ihn einen Sonderling genannt, andere als Fanatiker
bezeichnet. Er war der erste, der laut ausrief, dass die
Apfelbäume hier in den samarischen Steppen Früchte tragen
würden, wie dort im Süden an der Molosch. "Auch
allerschönste Blumen sollen uns hier erfreuen!" Ihm folgten alle
Ansiedler und Kuterlja mit ihren Lehmhäusern wurde ein
blühendes Dorf. Ehre und Dank den ersten Bahnbrechenden.
Den Brüdern Johann und Heinrich Martens
gehörten die ersten
Häuser des Dorfes, arbeitsam und wohlwollend waren sie. Sie
liebten den Frieden und waren bemüht anderen mit Wort und Tat bei
zu stehen. Mit eigenen Händen harte Heinrich Martens alle
Weidenbäume ums Dorf gepflanzt, welche heute noch das Dorf von
nördlichen und östlichen Seiten umringen und beschützen.
Wie viel Grün Freude, Brennholz und sogar Baumaterial kamen aus
diesen Weidenreihen. Erkennt man in den Nachkommen das Wohlwollende,
die Tüchtigkeit und die Friedfertigkeit, so sagt man: "Nun ja, es
kommt von den Martens." Obgleich die Brüder schon lange in der
Erde ruhten, ihre Werke folgten ihnen nach.
Das dritte Haus in der Reihe gehörte dem Ansiedler Peter
Nachtigal, dem Ur-, Ur-, Urgroßvater mehrerer Kinder des
Dorfes.
Er verteilte und vermaß das Land und war auch weit und breit
bekannt. Trotz seiner großen Schafherde und 160 Hektar Land lebte
er einfach und schlicht, war aufrichtig und gut zu seinen Arbeitern. Er
war auch Vorsänger auf Freud- und Trauerfesten. Er war der einzige
im Dorf, der eine Zeitung aus Odessa abonnierte, welche das politische
und gesellschaftliche Leben Russlands beleuchtete. Im Dorf
verkündigte er die Nachricht, als 1917 ein Geschrei ausbrach,
welches die ganze Welt erschütterte.
Der alte Johann
Wiebe war 8 - 9 Jahre später angesiedelt. Sein
Freund Heinrich Friesen starb 1941. Beide waren sehr lebhafte Menschen
mit viel Witz und Humor. Der Unterschied zwischen ihnen war: Wiebe
liebte den Humor, Friesen die Satire. Den Humor duldet man, die Satire
fürchtet man. Der Humor richtet den Niedergeschlagenen auf, die
Satire drückt den Erhobenen nieder. Beide zusammen halten das
Leben im Dorf im Gleichgewicht. Nur wer Kuterleer war, wusste diese
Tugenden der Ansiedler unseres Dorfes zu schätzen. Heute noch gibt
es viele Sprichworte, welche von diesen ausgingen.
Meine Großeltern Heinrich F. Unger (1851-1919) und Katharina
Unger (1858-1919) waren nur durch ein Grab getrennt. Der
Großvater trachtete nicht nach großen, irdischen
Gütern und meinte: "Wenn wir nur das Reich Gottes ererben, das
sind die größten Reichtümer." Er machte die besten
Strohdächer in der Umgebung. Sogar der reiche Gutsbesitzer,
"Karolin" Reimer wusste seine Arbeit zu schätzten. Er freute sich
herzlich über die kunstvoll gebundenen Hirsebesen, von denen er
jährlich viele machte. Die Großmutter bedauerte, dass sie
ihre sechs Söhne nicht mit Land versorgen konnte, weshalb die
Ältesten dann nach Sibirien zogen. Der Sohn Heinrich Unger wurde
in Sibirien reich aber verlor seinen Reichtum nach der Revolution und
zog nach Kanada. Erst zog es ihn zum Land, zum Reichtum, dann floh er
von beidem. Der zweite Sohn Jakob war in Sibirien nicht auf den
grünen Zweig gekommen und starb im Alter von 90 Jahren in
bescheidenen Verhältnissen, aber in fortwährender Dankbarkeit
für das gute Leben, für sein tägliches Brot, Kleidung
und für den großen Reichtum in Gott, welchem sein Vater
nachstrebte. In mir und in hundert anderen lebten ihre Lebensprinzipien
weiter: Der Großvater genügsam, die Großmutter
strebend.
Im umzäunten Grab unter einer alten Esche lag Elisabeth Epp
(1874-1919), meine andere Großmutter. Im 44. Lebensjahr war sie
verschieden, schon Greisin, denn die Haube, die schwarze Tracht, der
demütige Blick gaben diesen Schein. Sie hatte die drei "K" Kinder,
Kirche, Küche streng befolgt, wie die meisten Frauen des Dorfes.
Die Keime zur Kokettene, Eitelkeit, welche die Mutter Natur so
reichlich im Wesen eines Weibes hinein zu pflanzen versucht, wurden in
den mennonitischen Familien gewöhnlich noch in der Kindheit
beseitigt, damit sie der zukünftigen Mutterschaft nicht schadeten.
Das Wesen einer rechtschaffenen Ehefrau und Mutter sollte eine gesunde
Nüchternheit mit Gemütstiefe sein, die fortwährend
bestrebt sein sollte, Mann und Kinder zu beglücken und in diesem
Streben ihr eigenes Glück zu finden. Unsere Großmütter
wurden mennonitisch erzogen zur Demut, zum Dienen, zum Verzeihen und
Vergeben, trotz gewöhnlicher äußerer Kälte und
Enthaltsamkeit.
Als 18-jährige Liese Fast kam meine Großmutter nach Kurerlja
und schloss nach zwei Jahren, 1894 mit dem Ansiedler Abram Epp
(1862-1938) den Lebensbund. Er war ein ernster, strenger Mann. Lange
war er Schulze des Dorfes. Niemand fühlte so den Ernst der
Menschen wie ein Kind, deshalb hatte ich von klein auf eine Ehrfurcht
vor ihm. Mir Staunen bewunderte ich die vielen Bücher des
Großvaters. Ein braunes Buch von Voltaire war mir ein
Rätsel. Wegen des vielen Lesen, Suchen, Zweifeln, Verneinen und
Prüfen des Großvaters nannte man ihn gemütskrank. Unter
Tränen bereute er auf seinem Sterbebett, dass die vielen
Bücher ihn klüger aber nicht besser gemacht hatten. Als man
ihn fragte, wie er sich zur Kollektivierung und zur Revolution
verhalte, meinte er leise: "Ob ich einfacher Sterblicher sie
begrüße oder widerrufe tut wenig zur Sache, aber sie sind zu
Stande gekommen, weil die Revolution eine Sühne für die
Schuld der regierenden Klassen ist." Als aber in den Jahren nach der
Kollektivierung dem Bauern die Kuh zurückgegeben wurde, hoffte der
Großvater heimlich auch auf den Schimmel und die alte Braune,
denn die Denkweise eines Groß- und Mittelbauern blieb die
Denkweise eines Eigentümers.
Johann
Töws, ein Ansiedler, war dem Epp nicht nur ein bester
Freund sondern auch eine große Stütze in den Stunden der
Depression. Als Junggeselle war er hier angesiedelt und wirtschaftete
lange allein. Nach dem Tod seines Vaters im Süden heiratete er
seine Haushälterin Maria Barwich. Er zählte zu den
Männern, die den größten Landbesitz im Dorf hatten, und
stand im engem Verkehr mit dem reichsten Mann der deutschen Ansiedlung,
dem Junggesellen Heinrich Reimer. Reimer wohnte auf
einem Gutshof, aber
ließ Land, Hof, Pferde und Auto stehen und zog nach Kanada.
Maria
Töws zählte zu den wichtigsten Frauen des Dorfes
Kuterlja. Im Verlauf von 40 Jahren empfing sie alle Neugeborenen und
kleidete alle Verstorbenen zum letzten Mal. Niemand im Dorfe kam ohne
ihre Hilfe aus, da es in allen Dörfern mit der medizinischen Hilfe
bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts traurig aussah.
Auch mit Worten verstand sie alle zu trösten. Nach meiner Ankunft
hatte Frau Töws meine Mutter getröstet: "Macht nichts, dass
sie nicht einmal fünf Pfund wiegt, die Welt ist groß, in ihr
ist Raum zu wachsen." Nach der Geburt meiner Tochter sagte sie: "Ohne
Tochter kein gesichertes Alter." In schweren Stunden fühlten
Frauen des Dorfes sich in ihrer Nähe geborgen.
Ihre Tochter Maria Töws sprach immer mit
heiserer Stimme und war
unsere Sonntagslehrerin 1927-29. An einem Sonntag schmiegte ich mich an
Tante Mariechens Seite und fragte, wo Gott eigentlich wohnte. Sie
erklärte, dass Er auf allen Bäumen, Blumen, Bergen,
Häusern wohnte, aber sein Hauptquartier wären die Herzen der
Kinder, wo er sich das Böse und das Gute merkte. Folglich wollte
ich meine lieben Eltern nicht anlügen und auch nicht ein
Stück Zucker aus dem Mauerschrank in der großen Stube
nehmen, wenn Mama nicht schaute, wie mein jüngster Bruder Abram es
tat, denn er wusste noch nicht, wer in seinem Herzen wohnte. Wegen
ihrer Stimme liebten wir Tante Mariechens Spiele wie "Grünes Gras"
mehr als das Singen. Auch die Bengel, die auf der Straße mit
Steinen nach uns warfen waren hier ordentlich und gut.
Für mehrere Jahre, in der fünften und sechsten Klasse in der
Lugower Mittelschule, erklärte Lehrer G. J. Wiens
die
Erzählungen der Tante Mariechen für Märchen. Auch dass
der Mensch aus dem Garten Eden stammt, stempelte er als Märchen
und sagte der Mensch habe gemeinsame Vorfahren mit den Affen. Wir
rundeten die Antwort ab und sagten einfach: "Der Mensch stammt nach
Darwins Lehre von den Affen." Dieses war sehr deutlich, denn alle
Menschen waren geneigt das Gehörte und Gesehene nachzuahmen. Auch
in den dreißiger Jahren war er ein Optimist und wollte sein
Wissen in den plattdeutschen Dörfern verbreiten. In der sechsten
Klasse in der Naturkundestunde erklärte er uns, dass aus
gemischten Ehen eine gesündere, stärkere Generation empor
steigt als aus nicht gemischten. "Ihr seid zu jung um euch
Grünschnäbel solche Themen zu erklären" empörten
sich die Eltern der Kinder.
Als die Hitlerarmee 1941 vorwärts schritt und die Lage fürs
Land immer bedrohender wurde, sprach Lehrer Wiens sicher und
überzeugend, dass unser Heimatland von keinem Feind zu besiegen
sei. Aber nach kurzer Zeit wurde er, wie auch andere Lehrer und alle
arbeitsfähigen Männer an die Arbeitsfront hinter dem Ural in
eine Kohlegrube gerufen, wo er sein Leben gelassen hat. Aber sein Name
war auf keiner Oberliste zu lesen. Hier am Grabe der Maria Töws
dachte ich an beide Erzieher meiner Kindheit. Die Belehrung von Tante
Mariechen hatte mich besser gemacht, ich wollte nicht lügen oder
stehlen und wollte ein ordentliches Kind sein. Die Belehrung des Lehrer
Wiens hatte mich klüger gemacht aber nicht besser.
Tante Mariechen und ihr jüngster Bruder, zwei erwachsene Kinder in
einem Haus, starben 1933 an einem Tage an Typhus. Als meine Eltern von
der Beerdigung nach Hause kamen, zündeten sie einen Wisch Stroh in
der Küche an und umgaben sich mit diesem Rauch. Es war damals die
einzige Vorbeugung gegen ansteckende Krankheiten.
Isaak
Derksen, welcher nicht in den ersten zwei Jahren ansiedelte, war
ein guter Bauer: arbeitsam, ernst und streng, zudem ein feiner Tischler
Heute noch gibt es mehrere Kommoden, Schränke und
Mauerschränke, die von seiner Hand angefertigt wurden. Die
"künstlerisch" ausgestatteten Kommoden gehörten auch zur
Sache und nicht zur Kunst. Über alles stand die
Pünktlichkeit. Wurde die Versammlung nicht um acht Uhr angefangen,
wie im Zettel, der das Dorf durchlief, geschrieben war, bekam der
Schulze A. Epp sicher einen Verweis von Derksen. So ernst der Derksen,
so liebevoll war seine Gattin Justina Derksen, zu welcher man gerne
kam, um bei ihr Liebe und Trost in schweren Stunden zu holen.
In den dreißiger Jahren starb der Ansiedler Martin Penner,
ein
guter, friedfertiger Bauer, welcher tragisch ums Leben kam. Eine
40-jährige Wand, von welcher er einige Ziegeln nehmen wollte,
stürzte auf ihn und zur Mittagszeit war er tot. Gewiss glaubte er
fest an technischen Fortschritt, sonst hätte er nicht die erste
Fußmaschine (Nähmaschine) ins Dorf gebracht. Unter seinen
vielen Nachkommen gibt es verschiedene Ingenieure. M. Penner sagte:
"Wenn ich sehe, dass mein Nachbar böse ist, habe ich kein Recht,
auch so zu sein."
Peter Epp,
der erste Schüler der Lugower Zentralschule, ertrank im
Jahre 1914. Die tiefbetrübte Mutter folgte bald ihrem Sohn. Der
Vater beweinte seinen Sohn mit den Worten: "Er musste uns genommen
werden, weil ich zu stolz auf ihn war."
Der Ansiedler Abram Krüger wurde fast 90
Jahre alt. In den letzten
Tagen seines Lebens warnte er die Angehörigen: "Weidet nicht die
Wiesen und Berge im Herbst so kahl, sonst verschwinden die Wurzeln der
Gräser und es wird im Frühling das Gras fehlen." Auf das
Wirtschaftliche war er bedacht und hatte eine Musterwirtschaft in der
Mitte des Dorfes. In einer Nacht im späten Herbst 1929 nach einer
fetten Schweineschlacht stand seine Musterwirtschaft mit Nebenbau und
die Wirtschaft meines Großvaters A. Epp, seines Nachbars, in
Flammen. In zwei Stunden war die Arbeit von 30 Jahren niedergebrannt.
Nach zwei Jahren erklärten beide Bauern diese Flammen für ihr
Glück, denn sie kamen in der Kollektivierung nicht in Betracht als
Großbauer.
Helene
Tun starb 1949. Obzwar Tuns nicht zu den Ansiedlern
gehörten, wurden sie bald zu den Kuterleern gezählt. Von
besonderer Schönheit war sie, so auch ihr Heim. Der Fußboden
(Erdboden) in Tuns Haus sah glatter, ebener, besser aus als in den
anderen Bauernhäusern. Sie kochte die schönste
Hühnersuppe, backte den lockersten Butterzwieback und bereitete
duftenden Kaffee mit Sahne. Tun, ein netter, beweglicher Mann,
ehemaliger Verwalter eines Gutsbesitzers, war auch ein guter
Handwerker. Ihr Sohn Johann hatte die Schönheit seiner Mutter und
den heiteren Geist, die Tapferkeit und Beweglichkeit des Vaters geerbt.
Aber er verließ Kuterlja als ein Bauer, das Liebesband zwischen
ihm und Lena Penner zerriss.
Die Reihen der Entschlafenen schildern auch die schwersten Jahre der
Geschichte. Kurze Kindergräber waren mehr als in den letzten
Reihen der Verstorbenen, dank besserer medizinischer Betreuung. Viele
Kindergräber gab es in den sechsten und siebten Reihen, in der
Zeit des Ersten Weltkrieges. Dieses waren nicht nur Gräber der
Bewohner von Kuterlja, sondern auch Gräber der Flüchtlinge
aus Österreich, Deutschland und von der Memel. Wie hatten die
Flüchtlinge gestaunt über die unendlichen Steppen, Felder,
die hohen Strohhaufen auf jedem Hof und über das große
Weißbrot, welches die Hausfrau nicht ohne männliche Hilfe
aus dem Backofen zu ziehen vermochte. Nach und nach kehrten sie wieder
heim.
Der erstgeborene Bewohner des Dorfes soll ein Knabe gewesen sein, der
gleich starb und diesen Friedhof eröffnete. Zu den Erstgeborenen
von 1892 gehörte auch Katarina Derksen welche nie in die
Ehe
getreten war Ernst, schweigsam, tüchtig und einsam lebte sie dahin
bis zum 76. Lebensjahr. Ihre Uhr, die noch aus Holland stammte, wurde
ins Museum der Kollektivgewerkschaft abgegeben. Auch Katarina Martens
geb. 1892, eine 80-jährige Jungfer ruht hier in den letzten
Reihen. Die beiden alten Jungfern gingen dunkel gekleidet, mit
sauberen, gebügelten, schwarzen Schürzen, aus deren Taschen
weiße, zusammengelegte Taschentücher sichtbar waren, um den
Kopf ein Beschtuch.
Das vierte Haus vom Ende des Dorfes gehörte einst Johann
Görzen, welches erst abbrannte, dann ausbrannte. Es hatte
zur
Folge, dass das Dorf sich um einen Feuerwehrmann kümmerte. Auf
Schultebott am Anfang des Jahrhunderts wurde beschlossen zwei Lehmkaten
auf dem südlichen Ende des Dorfes zu bauen: eine für den
Hirten, die andere für den Feuerwehrmann.
Der erste Feuerwehrmann war Klaß Unger, der weder Land,
Wirtschaft noch Verwandte hatte. Sein einziges Eigentum war sein Weib
und sein schönes Töchterchen Tinchen. Wenn die Dämmerung
sich auf Kuterlja niederließ und die Finsternis noch nicht
eingetreten war, im "Twedista," verließ Onkel Klaß seine
Lehmkate. Dann musste er mit einem Gerät, das einem
Kinderspielzeug ähnlich war, anfangen zu klappern. Niemand hatte
dann Sorgen, denn der Nachtwächter war auf seinem Posten. Onkel
Klaß vermied dann auch Pferdediebstahl, klopfte rechtlich bei
Gerhard Fast am Eckstubenfenster und riet dem Bauern gleich
nachzureiten, da die Diebe noch nicht weit seien. Am anderen Tage ging
er wie ein Held im Dorfe, aber die Dankbarkeit war bald vergessen. Es
kam auch vor, dass auf dem Schultebott über Onkel Klaß
gescholten wurde. Man beschuldigte ihn, dass dann und wann das
Geklapper gefehlt habe, und Onkel Klaß habe wahrscheinlich
geschlafen. Folglich setzte Onkel KIaß sich am nächsten
Abend unter das Fenster des Empörten und klapperte so laut und
lange, bis der Wirt schließlich die Vordertür öffnete
und rief: "Ich höre schon. Jetzt reicht es." Aber bei hellem Tag
brannte die Lehmkate des Wächters ab und Klaß Unger
verließ Kuterlja. Die Kate wurde nicht mehr restauriert.
Mein Schwiegervater Heinrich Nachtigal lag in einem
Sarkophag aus
Zement und Sand gegossen. Dieser wunderbare Mann war weit und breit
bekannt, denn er hatte viele Freunde unter allen Nationen. Mit jedem
sprach er in dessen Muttersprache, denn er beherrschte die
plattdeutsche, hochdeutsche, russische, baschkirische und tatarische
Sprache. Es machte ihm große Freude die Feste anderer Völker
zu besuchen, welches eine Seltenheit unter den Mennoniten war.
"Über alles in der Welt muss man die Freiheit lieben." rief er oft
aus und: "Merkt euch, dass Armut und Abhängigkeit rechte
Geschwister sind und stehen weit entfernt von der Freiheit." Er
gehörte zu den reichsten Männern des Dorfes und gab folglich
auch am meisten Land, Pferde, Kühe und Maschinen in die
Kollektivwirtschaft hinein. Er starb im Februar 1953 mit 74 Jahren.
Seit dem besserte sich das Leben auf dem Lande. Heute würde er
staunen über die großen Bauten und Komplexe, über den
Wohlstand seiner Nachkommen.
Der Sarkophag meiner Schwiegermutter Susanna Nachtigal erinnerte mich
daran, wie sich dieses Ehepaar durch ihre Verschiedenheiten
ergänzte. Der Mann redselig, wissbegierig, heiter, mit
großem Interesse für die Welt. Die Frau schweigsam,
arbeitsam, pünktlich, mit Interesse für Mann, Kinder,
Großkinder. Sie war nur bedacht auf das Wohlergehen und die
Ernährung der Ihren. Ging es laut und bunt in der Familie her,
wenn alle lachten und scherzten, so war sie dennoch schweigsam und
nüchtern und sorgte für Ordnung, Frieden, Speise und Trank.
Mamii und Papii nannten wir sie.
Johann
Nickel kam als zehnjähriger Knabe, wie auch H. Nachtigal,
mit seinen Eltern nach Kuterlja, ein lustiges Kind und fähiger
Schüler. Er verstand Vierzeiler, Scherze, Späße,
Gleichnisse passend anzuführen. In der Einzelwirtschaft hatte er
nicht nach Reichtum gestrebt. In der Kollektivwirtschaft stand er immer
seinen Mann, führte die Rechnungen, nahm Getreide auf der Tenne an
und wog es auf einer Waage. Diese bestand aus einem Querbalken, an
einem Ende mit einem großes eisernes Gefäß und am
anderen Ende die Gewichte. Fr sorgte für Ordnung auf der Tenne.
Wenn er guter Laune war, meinte er, dass die plattdeutsche Sprache die
wahrhaftigste Sprache der Welt sei. Lange Zeit wurde alles
"Geschriebene" wie Begräbnisbriefe, Hochzeitsbriefe, Bittschriften
und Dankesbriefe von ihm verfertigt. Vieles von ihm Gesagte lebte fort
und wurde zum Sprichwort..
Den Gartenbau liebte er nicht so wie seine Ehefrau, Helena Nickel,
die
jedes Korn sorgfältig in die Erde legte und dann mit der flachen
Hand die Erde in Liebe fest klopfte. Sie war die Tochter des P. Suckau,
der die "Kaiserkrone" einst pflanzte. Als ich ihn mit seinen 83 Jahren
besuchte, war er noch rüstig und lebensfroh. Er erzählte
Verschiedenes aus alten, guten Zeiten, wie die Mennoniten arm in
Russland eingewandert waren, wie sie durch große Tüchtigkeit
zum Wohlstand aufgestiegen seien, wie sie sich ausgebreitet hatten im
Süden und im Osten Russlands, sogar am Amur. Aber er meinte,
besser als jetzt hätten die Menschen nie gelebt, denn alle waren
gekleidet und alle wohl ernährt ohne sich abzurackern. Das Leben
war schön geworden. Seine Frau verstarb früh. Bis 80 Jahre
war er Deputierter des Dorfsowjets. Zu den Sitzungen und Versammlungen
erschien er immer rechtzeitig und sagte jedes Mal: "Der älteste
Deputierte ist erschienen, wo sind die jüngeren?" Was beschlossen
wurde, musste durchgeführt werden, und er tat dazu das seine. Als
ich ihn zum letzten Mal besuchte, saß der 88-jährige Greis
auf einem Rollstuhl, sehr taub, mit schwachem Augenlicht. Auf dem Tisch
lag aufgeschlagen die Bibel, auf welcher eine Lupe lag. "Weißt
du,." sagte er" leben kann man ohne Gott, nur sterben möchte ich
nicht ohne ihn." Er lobte das Leben, seine Kinder und Großkinder,
bei denen er ein gesegnetes Alter gehabt hatte, und äußerte
den Wunsch heim zu gehen.
Auch Johann
Thießen kannte den schweren Anfang der Ansiedler in
den Samarischen Steppen. Berichtete die "Friedenstimme", organisiert
1902, oder "Unser Blatt" über das Leben der Ansiedler, so
hieß es da: in "Neu Samara, Kreis Busuluk." Nach Kuterlja war die
Familie Thießen erst später von einem Gutshofe
übergesiedelt, als die Gutshöfe geplündert wurden. Alle
zwölf Kinder waren groß von Wuchs, blond, schlank, mit einem
Schönheitsgefühl. Die Hälfte der Kinder verabschiedeten
sich von den Eltern und Geschwistern und zog nach Kanada.
Er selbst war ein netter Mann, beweglich, redselig und zufrieden. Die
Frauen des Dorfes holten gerne aus seinem Brunnen Wasser, denn das
"Thießenswasser" war weicher als das Wasser anderer Dorfbrunnen.
Thießens waren unsere Nachbarn an der nördlichen Seite.
Eines Morgens (1928- 29) nannte Onkel Thießen laut meinen Namen
auf seinem Hofe und winkte mir mit dem Zeigefinger. Rasch lief ich hin.
"Was machst du denn?" fragte er. "Ich baue Häuser im Sand!"
"Bauen, Kind, ist immer gut, komm mal mit, ich habe ein Geschenk
für dich." Aus der Vorratskammer in der Küche holte er mir
einen großen Packen alter Fotos, andere Bilder und feine, mit
Gold verzierte Wunschumschläge. Da wir in den zwanziger Jahren mit
gekauftem Spielzeug nicht verdorben wurden, diente alles als Spielzeug:
Fläschchen, Gemüse, Blätter. Gewiss würden auch
diese Fotos sich gut dazu eignen. Damals vernichteten viele Leute
vorsichtshalber Papiere, Fotos, Dokumente und Bücher. Als ich
endlich des Bauens satt wurde, raffte ich meine Schätze zusammen
um meinen Reichtum den Eltern zu zeigen. Die Eltern schauten auf die
Bilder und erkannten sogleich wo sie her waren: von Ufa, vom
Süden, von der Krim und Sibirien. Es waren viele Familienbilder,
ein Bild einer mennonitischen Wirtschaft aus dem Süden, mit einem
Giebel aus Ziegeln und ein Ziegelzaun um den Vorgarten, auf dem Hof
eine Querscheune, an der Schmiede trieb man dem Pferd das Hufeisen an.
"Mutter, Vater, weshalb sind in Kuterlja nicht solche schönen
Häuser?" fragte ich. "Das Dorf Kuterlja war noch zu jung, dann kam
der Krieg" war die Antwort.
Die Bilder mit verschiedenen Maschinen wie Binder, Dreschmaschinen und
Pflügen, interessierten meinen Bruder. Mir gefiel das Bild mit den
zwei Geschwistern: ein Mädchen im weißen Kleid und ein Knabe
im schwarzen Anzug, mit weißen Knöpfen an den Höschen!
Sie trugen feine Schuhe, mit Riemen über den Fuß. Sie waren
nicht zu vergleichen mit meinen kleinen Holzpantoffeln, die Vater
selbst anfertigte und Mama mit etwas Schwarzem anstrich, damit sie
weicher waren. Sie sahen auch wunderschön aus, aber waren nicht zu
vergleichen mit den Schuhen des Mädchens. Auf einem Bild war das
Schweineschlachten dargestellt: Das fette Schwein, dem die Eingeweide
entnommen waren, hängend, die Bauern ruhend, die Kinder
beschäftigt mit dem Aufblasen der Harnblase, genau so wie in
Kuterlja. Das wichtigste Bild war für mich ein Brautpaar, das sich
fest an den Händen hielt. Die Braut im langen weißen Kleid,
der Schleier schön auf der Erde zurechtgelegt, der Bräutigam
ernst, hochaufgerichtet stehend, im schwarzen Anzug. In den Maschinen
sah mein Bruder seine Zukunft, in der Liebe des Brautpaares sah ich
meine.
Zu den Ansiedlern des Dorfes zählte man auch Gerhard
und Liese
Fast, die von der Molotschna mit ihren sechs erwachsenen
Töchtern
und zwei Söhnen nach Neu Samara zogen. Sie waren meine
Urgroßeltern von mütterlicher Seite. Die erste Silberne
Hochzeit, welche Kuterlja feierte, war die Hochzeit meiner
Urgroßeltern, welche zusammenfiel mit der Grünen Hochzeit
meiner Großeltern Abram und Liese Epp. Ihr Haus steht heute noch
da, weit entfernt von der Straße. Sollte der Urgroßvater
sein Haus besuchen, so würde er wohl mit Wehe im Herzen seine
Nachkommen fragen: "Wo sind all die mennonistischen Möbel
geblieben? Wo ist das Ausziehbett, die Schlafbänke, die man
tagsüber zusammen schob und zudeckte wie eine Kiste, wo steht die
Kommode und der Ausziehtisch, an welchem meine große Familie
speiste? Alles war stabil und aus gutem Holz gemacht und sollte noch
lange den Kindern und Großkindern dienen. Diese neuen Möbel
sind von solchem dünnem Holz oder gepresstem Papier, die nicht mal
ein Menschenleben lang aushalten, nur der Glanz ist gut. Wo ist der
rote Ziegelherd mit dem gusseisernen Kessel geblieben? Auf jenem
weißen Ding, mit so einer kleinen Flamme bereitet ihr heute eure
Speisen?".
Sie lebten anfänglich etliche Monate in Sorotschinsk, bis der
Frühling den Schnee aus Kuterlja vertrieb. Auf dem 50 Werst langen
Weg traf man nur drei
russische Dörfer. Zwei Dörfer hatten hohe Kirchen, welche
schon von weit zu sehen waren. Als ihr Schlitten Jaschkino verlassen
hatte und den Berghügel mit großer Anstrengung
hinaufgefahren war, bat Liese ihren Gerhard: "Halt mal die Pferde an
und schaue nach, was eigentlich die schwarzen Hügel auf den
Feldern bedeuten, es sind so viele von Sorotschinsk an." Gerhard
prüfte mit dem Peitschenstiel den Humpel und merkte, dass es fest
gepresste Ähren waren, so fest, dass keine Maus vermochte
hineinzudringen. Er meinte: "Das verstehen die Russen meisterhaft!"
Aber er glaubte doch, dass der Vorrat an Korn auf dem Hausboden
sicherer sei als auf dem Feld.
An der nördlichen Seite des Friedhofs lag ein Gemüsegarten,
welcher jetzt den Nachkommen des Ansiedlers Heinrich
Friesen
gehörte und wieder lebte hier ein Heinrich Friesen. An der
Westseite des Friedhofs grenzte der Hinterweg des Dorfes, welcher sich
auch einem Kollektivfeld entlang zog. Die Abwechslung der
Getreidekulturen, die hier angebaut wurden, wurde von den gelehrten
Agronomen streng befolgt. In diesem Jahr sollte ein prächtiges
Weizenmeer die Kuterleer erfreuen. An der östlichen Seite des
Friedhofs ging es immer heiter her: da stand die Schmiede, die
Werkstätte, in welcher die Holzarbeit, das Nötige für
die Kollektivwirtschaft und für privaten Gebrauch gemacht wurde,
hier wurden auch alle Särge für den Friedhof angefertigt.
Hier ruhten über Nacht die vielen Traktoren und Mähdrescher.
Die große Fläche war das Land des Obergartens, der alten
Schule und des Klubhauses: Das Herz des Dorfes. Hier versammelten sich
am Morgen die Männer vor Beginn der Arbeit, hier besprachen sie
Kollektiv- und Privatsachen, Handel und Preise. Am südlichem Ende
grenzte der Friedhof an die Mittelstraße, hinter welcher ein
kleines Fichten- und Tannenwäldchen lag, den wir Weihnachtswald
nannten. Dieser Wald war uns ein Symbol des ewigen Lebens, denn er
grünte im Sommer und im Winter. Gerne spielen Kinder im Wald, und
Erwachsene suchen hier Erholung und Vergnügen.
Diesen Wald pflanzte 1910 Jakob Neufeld auf einer Wirtschaft die
er vom
Ansiedler Lorenz gekauft hatte, Im Frühling fuhr er 100 Kilometer
zum
Busuluker Wald, kaufte kleine Tannen- und Fichtenpflanzen, bedeckte sie
mit feuchter Decke auf dem Wagen und kam nach Kuterlja. "Der Neufeld
bringt frische Erde aus Busuluk", lachten die Bewohner über sein
Vorhaben. Der Wald aber wuchs heran, steht heute noch grün da und
erinnert uns an den Mann, der nicht nur die Natur liebte, sondern auch
alles in der Welt: Musik, Kunst und die Frauen. Ohne Lieder und
Schönheit wäre ihm das Leben zu öde gewesen. Der Name
Neufeld war auch verbunden mit dem Verständnis ein Meister zu
sein: mit Holz, Eisen, Elektrizität und Technik.
Jakob
Plett gehörte nicht zu den Ansiedlern des Dorfes Kuterlja,
sondern Bogomasow, welches fünf Jahre früher angesiedelt
wurde. Seine Erzählungen klangen wie Musik, wie Donner oder wie
das Rauschen von fließendem Wasser. Schön waren sie immer,
auch wenn es sich um einfache Dinge handelte, Mit welchem Geschmack,
gepfeffert und gesalzen, erzählte Onkel Plett von den ersten
Ansiedlern von Neu Samara. Die zwei Brüder Stobbe unterschieden
sich von andern durch hohen Wuchs und gewaltiger Stärke. Die
Brüder fuhren zum Markt nach Alt-Gratschowka, um Lebensmittel und
Pferde zu kaufen, denn sie konnten von der Molosch nicht alles
mitschleppen. Die Russen in ihren Kaftanen, mit den Binden um den Leib,
in Wicklern und Bastschuhen umringten die hohen Deutschen und fragten:
"Sind alle Menschen, die hier ansiedeln wollen, so groß und stark
wie ihr beiden?" "O ja," hatte ein Stobbe geantwortet, "wir beide haben
noch 33 Brüder, von welchen wir die kleinsten sind!" Die Russen
hatten die Köpfe geschüttelt. Die russischen Bauern
beschuldigten die Deutschen, dass diese mit ihrem Kommen die Preise auf
den Märkten in die Höhe getrieben hätten. Wenn der
deutsche Übersiedler auch nicht reich war, so hatte er doch etwas
mehr als der russische Landmann, der erst vor Kurzem von der
Leibeigenschaft befreit worden war. Für die reichen russischen
Bauern war die Übersiedlung der Mennoniten von Nutzen, denn diese
brauchten alles: Vieh, Weizen, Kartoffeln. Die Kartoffeln, die sie sich
kauften, waren im Herbst wie Haselnüsse. Aber auf der Neulanderde
wuchsen Kartoffeln so groß wie die hölzernen Pantoffeln oder
ein Bastschuh.
Onkel Plett erzählte gern vom Försterdienst, wo er seinen
Dienstbrüdern auf einem Ziehharmonium mit Löffeln anstatt
Knöpfen an der linken Seite vorgespielt hatte. Dreißig Jahre
war er Schmied des Dorfes. Keine Frau konnte ohne seine Renovierung von
Gefäßen in den schweren Jahren auskommen. Damals ruhte die
ganze Kollektivwirtschaft mehr auf dem Schmied als heute. Badete man
früher die schwachen Kinder im Schmiedwasser, so brachte diese
Heilkunst sie in Berührung mit Eisen. Jakob Plett war stolz auf
seinen Beruf und was er in seinem Leben verfertigt hatte.
Gute Sitten herrschten in unserem Dorfe: man hielt es für seine
Pflicht, die jungen Leute zu verheiraten und die Verstorbenen zu
beerdigen. Auf den Begräbnissen vergaß man die
Schwächen, Fehler, Streitereien und Beleidigungen. Hier besang man
jeden mit Liedern verschiedenen Inhalts. Die Begräbnislieder
priesen alle das Wiedersehen. "Auf Wiedersehen" stand auch auf allen
Särgen, dann zwei Buchstaben: Name, Familienname, dann zwei
Jahresdaten, durch einen kleinen Strich geteilt, Geburts- und
Todesjahr. Als Mädchen malte ich auf einem Deckel mit Zahnpulver:
"H. N. 1858-1946." In den ersten Jahren starben viele an Defterit
(Diphtherie). Man behauptete, dass der erste Bazillus der Diphtherie in
einem Brief aus Sibirien gekommen sei. Heute ist dieser Bazillus
bekämpft, wie auch die Lungenkrankheit Tuberkulose. In den
mittleren Reihen des Friedhofes ruhten viele, die an Typhus starben.
Heute sterben Menschen an Krebs und hohem Blutdruck. Letzteres
bekämpften unsere Großeltern durch "Adern lassen" mit einem
kleinem "Beilchen"' das sie Flett nannten. Werden die Menschen einst
befreit von allen Krankheiten, um dann im hohen Alter durch
allmähliches Ableben zu sterben? Maßloser Genuss,
große Liebe oder Selbstliebe, Kummer und Leiden verkürzten
den Lebenslauf. Die Gräber von hohen Greisen aber lehrten, dass
diese Menschen die Arbeit liebten, und natürlich lebten.
Die Greisin Anna
Heide, eine heitere Frau liebte die Tat, die Arbeit,
sogar den Handel. Das irdische Leben hatte für sie
größere Bedeutung als das Jenseits, aber auch sie wollte mit
ihren 83 Jahren heim. Sie meinte, dass in den Jahren der Ansiedlung die
Lieder einen schöneren Klang hatten, und man lustiger lachte als
jetzt. Sogar das Brot war drei Mal so hoch wie heute, da der Weizen
nicht in Berührung mit Metall kam, da man mit dem Ausfahrtstein
gedroschen hatte. Sie war dankbar, dass ihr Gatte Heinrich ihr
vorangegangen war und dass sie beim Sterben keine Sorgen um Mann oder
Kinder hatte. In den ersten Jahren waren sie sehr betrübt
über Kinderlosigkeit, aber desto größer war ihre Liebe
zu einem Knaben, welchen sie von klein auf erzogen hatte. Heute noch
steht das Haus in voller neun Meter Breite mit dem hohen Giebel mit
einem Giebelfenster, in welchem die jungen Jahre des Heinrich Heide
verliefen. Das erste Haus der Straße, gehörte Kornelius
Heide, dem Vater von Heinrich und Martin Heide und ihren drei
Schwestern. Für die Kuterleer verkörpert der Name Heide
Friedfertigkeit. Die Wurzeln der Friedfertigkeit wurden in den vielen
Nachkommen von Heide nicht erstickt, sie trugen Blüten in
Menschen, die längst auch andere Namen tragen. Als
15-jähriges Mädchen harkte ich mit einer großen
Schleppharke das Getreide in der Erntezeit zusammen und Onkel Heide lud
es auf den Leiterwagen. War der lange Wagen voll, klappte er die
Leitern des Wagens an beiden Seiten auf. Er mochte nicht den Wagen
halbvoll ins Dorf bringen, um viele Wagen gebracht zu haben. Er war
nicht redselig, aber kam er in Schwung, war er schwer aufzuhalten.
Er erzählte mir über den Försterdienst der wehrlosen
Mennoniten in Russland, über die Bedeutung des
Försterdienstes für das Reich, und über die Bedeutung
des Försterdienstes für die mennonitische Gesellschaft. Die
Förstereien lehrten die Ackersleute über Waldbau und
Gartenbau. Wichtig war ihm, dass es in der Försterei in Vielem wie
zu Hause war: Man speiste wie daheim, hatte am Sonntag Andacht, an
Feiertagen gab es Zwieback, Obstsuppe, Schinkenfleisch und Senf. Er
rundete die hohe Kornfuhre mit der großen englischen Gabel ab.
Dann fuhr er Schritt für Schritt den Berg hinab zum Dorfe, indem
er die Leine steif anzog und sich mit den Füßen fest gegen
den Querbalken des Leiterwagens stemmte. Er meinte, dass solche, die
nicht verstanden mit Pferden umzugehen, erfahren könnten, dass der
Wagen mit den Rädern nach oben zu liegen kam, die Seile zerrissen
und die Pferde davon liefen. Ich schaute von oben auf das Dorf mit
lieblichen Strohdächern, Gärten, Hecken, Zäunen und
ebener Straße. So arbeitete ich viele Tage mit ihm und er
erzählte Interessantes aus dem Försterdienst. Von solchen wie
Onkel Heide, pflegte H. Wiebe zu sagen, dass er nicht am Weltkrieg
Schuld habe, weil er nach Frieden strebte und nicht nach Zank und
Streit. Heide war ein Mann mir gutem Herzen, der treu in der
Kollektivwirtschaft arbeitete.
Das dritte Haus des Dorfes gehörte dem Ansiedler Janzen, der
trotz
aller Arbeit und Mühe nicht auf einen grünen Zweig kam. Seine
Frau liebte den Gartenbau, wie auch die Blumenzucht. An der
Straße in ihrem Garten steht die einzige Eberesche des Dorfes,
die zu allen Jahreszeiten schön ist, im Sommer durch ihre
Blätter, im Herbst durch rote Beeren, die wir in der Kindheit
für giftig hielten, und im Winter durch den Reif, der wunderliche
fantastische Formen machte, anders als auf anderen Bäumen.
Über alles aber liebte Frau Janzen den duftenden Kaffee, besonders
in fremden Häusern. Mein Großvater A. Epp belehrte oft Weib
und Töchter die Blumen zu lieben und nicht zu plaudern. Die
Arbeitstasche, in welcher Wollknäuel und Stricknadeln waren,
kannte jede im Dorfe. Blühten jeden Frühling die Lilien,
Tulpen und Begonien, so erinnerte man sich unwillkürlich an sie.
Sie starb bei ihrer Tochter Lieschen in der Orenburger Ansiedlung. Ihre
Tochter Suse, mit ihrem Martens Hermann, verließen Kuterlja um
ihr Glück in Kanada zu suchen.
Unter einer bekannten Esche ruhte Gerhard Unger. Seine Ehefrau Aganeta
Unger lag 60 cm von ihm entfernt, in der davor liegenden Reihe. Von
allen meinen Onkeln liebte ich den Onkel Jät wohl am meisten,
wahrscheinlich für seine Originalität, schlagfertig in Wort
und Tat. Er suchte nie den Nutzen oder Vorteil für sich. Das
verteidigen seiner Ansichten spielte für ihn eine
größere Rolle als der Gewinn. Handelte es sich um das
Verteidigen seiner Prinzipien, so pflegte man im Dorf zu sagen, dass
das Wasser bei ihm bergauf laufe. Am Frauentag pflegte er auszurufen:
"Sie gehört der Familie und nicht dem Staat. Wehe dem Lande, wo
Frauen und Knaben regieren." In den Kriegsjahren auf den
Arbeitsfronten, meinte er, dass seine Frau, Tante Netje ruhig zu Hause
bleiben und sich nicht auf Bahnstationen herum treiben sollte. Weil er
nie krank war, glaubte er auch nicht an Medizin oder Arzte. Als er mit
seinen 70 Jahren erkrankte, tröstete er die Angehörigen, "ich
bin alt und muss davon." Über alles bebte Onkel Jät die
Pferde, die er am Ende des Dorfes auf einer runden Bahn dressierte. Die
Pferdezucht stand in Kuterlja auf einer höheren Stufe als in
naheliegenden Dörfern. Als jemand behauptete, dass das Pferd bald
im Museum stehen würde, meinte er, wenn die Zeit eintreten sollte,
würde das Kommen des Herrn nahe sein. In den letzten Jahren seines
Lebens bewachte Onkel Jät pflichtgetreu die Getreide des Dorfes,
wo ich ihn dann manchmal besuchte, um ihn am Sonnabend mit frischem
Gebäck zu erfreuen. Er liebte die Unterhaltung und zitierte die
Worte eines Liedes: "Über den Sternen, da wird es einst tagen." Er
sagte, er ertrage schlecht Schwätzer oder Heuchler. Von allen
Lehren und Religionen erkannte er nur die Lehre des Mennon:
Wahrhaftigkeit, Friedfertigkeit, Freigebigkeit, ohne Schwert und
Blutvergießen.
Onkel Gerhard lebte lange arm mit seiner großen Familie, aber
starb in guten, weißen Betten. Er lobte und dankte für den
Wohlstand, der den Menschen zuteil geworden war. Mit dem großen
Gott, zu dem er inniglich betete, hatte er seine eigene Rechnung, um
welche andere für sich sorgen, um bei Ihm Gnade zu erflehen. Auf
seinem Sterbebett sang er halblaut: "Gnade muss es sein, Gnade ganz
allein".
Ich ging zum vergessenen Grabhügel der Katarina
Adrian. Durch eine
Gehirnhautentzündung im Kindesalter hatte sie nur eine kindliche
Denkweise, einen dicken, abgerundeten Körper und eine grobe
Stimme. Da sie aber sehr stark war, wurde sie der Kollektivwirtschaft
zum Nutzen. So musste Tante Tin immer da stehen, wo der Kampf am
härtesten war, beim Stroh und Spreu der Dreschmaschine. Sie weinte
dann auch, warf die Gabel ins Stroh, empörte sich aber es blieb
dabei. Im Herbst, wenn sie mit vier Metern Kattun für ein Kleid
prämiert wurde, vergaß sie auch die Beleidigungen und an
langen Winterabenden sehnte sie sich nach dem heißen Sommer, nach
der Dreschmaschine. Die weniger kluge Katarina Adrian war stolz auf
ihre Arbeit, mit der sie besser fertig wurde als viele andere
Mädels des Dorfes. Sie liebte die Freud- und Trauerfeste, zu
welchen jedermann geladen wurde, ohne Ansehen der Person. Am liebsten
sammelte sie Fotografien von den Bewohnern des Dorfes. Sie beruhigte
sich als man sie tröstete, dass der junge Hans Unger auch sie nach
ihrem Tode fotografieren würde. Wir nannten sie schwach, weil sie
nicht fähig war das Falsche, das Tückische, das
Pharisäische in den Erwachsenen zu erkennen. Ihr Leiden wurde
schwerer und 1969 wurden die Verwandten von Tante Tin erlöst. Sie
wurde beerdigt wie alle anderen im Dorfe. Sechs Männer vermochten
kaum, den schweren Sarg auf die Bahre zu bringen. Auf dem Friedhof
sangen wir: "Sehen wir uns an jenem Ufer, wo die Lebensbäume
blühn." Hier am Grabe schämte ich mich, denn der Spruch:
"Werdet wie die Kinder" konnte hier buchstäblich aufgefasst werden.
Der Grabhügel des Heinrich Wedel erinnerte mich an
einen starken
Mann mit festen Überzeugungen und einem schweren Gang. Alle
Motoren, Dreschmaschinen, Mühlen und anderes arbeiteten unter
seiner Leitung. An seinem Grabe erinnerte ich mich einer Begebenheit in
den dreißiger Jahren.
Ich durfte zur Stadt Orenburg mit meinem Papa, der mit Wedel und
anderen zum Dienst reiste. Nach Beendung der Tagesarbeit durften auch
wir Landbewohner uns in dem großen schönen Park der Stadt
des Lebens freuen. Hier schien helles Licht, welches es in Kuterlja
nicht gab. Die Hornmusik schallte ganz anders als die weichen Töne
des Fußharmoniums zu Hause. Das Interessanteste waren die vielen
schön gekleideten Menschen. Wie schienen mir all diese Menschen
glücklich zu sein, denn die lachten und scherzten miteinander dort
an jener Fontaine bei den Blumen! "Kind, sei aufmerksamer, dass wir uns
hier im Getümmel nicht verlieren," warnte mein Papa. Heinrich
Wedel liebte Musik und Gesang, doch er pflegte sie selbst nicht. Vor
allem aber liebte er das Schöne in der Natur und in den Menschen.
Er gehörte zu den Ersten, die in den Nachkriegsjahren die
Obstbäume wieder zum Leben brachte und ihm folgten dann fast alle
Dorfbewohner.
Am Kopfende eines anderen Grabes wuchs ein hoher Baum, der in Kuterlja
unbegründet Brotbaum genannt wurde. Auf dem Täfelchen standen
zwei Buchstaben in gotischer Schrift "K. G. 1895-1960", und die
Inschrift: "Überwunden durch das Lammes Blut." Hier ruhten viele
Gläubige, wohl keine Abergläubigen. Der Aberglaube verschwand
mit dem Fortschritt, aber nicht die Religion, welches die Worte auf den
Täfelchen der Verstorbenen bewiesen.
Kinder und viele Jugendliche buchstabierten diese Worte und verstanden
den Sinn nicht. Auch mein Sohn nicht. Er meinte die Revolution wurde
erkämpft durch das Blut von Tausenden. Katarina Görzen
glaubte, dass Fleisch und Geist zwei geteilte Substanzen waren und
nicht eins, wie der Materialismus lehrte. Für ihre feste
Überzeugung und öffentliche Behauptung wurde sie 1951 zu 25
Jahren Gefängnis verurteilt. Sie wurde verschiedener feindseliger
Taten beschuldigt, von welchen sie keine Ahnung hatte, da sie in
großer Armut und schwerer Arbeit als Kälberwärterin mit
ihren Kindern zusammen ihr Dasein fristete, denn der Vater war schon
1935 der Familie entrissen worden. In den schweren Kriegsjahren war das
Erhalten der Kälberherde keine leichte Sache. Wie freute sich K.
G. über die Erfindungsgabe ihrer Kinder, die sich an kalten
Herbsttagen ihre bloßen Füße in den warmen
dünstenden Kälberdreck zu wärmen verstanden, um vor
Erkrankung und Erkältung bewahrt zu bleiben. 1955 kehrte sie
zurück nach Kuterlja, ohne jeglichen Hass oder Beschuldigung.
Niemand im Dorfe sah sie jemals erbost. Vom Morgen bis zum Abend war
sie stets bemüht, sich selbst zu bekämpfen, denn "nur was Du
hebend getan, wird bestehen", wiederholte sie aufs neue. Dort in den
Gefängnissen hatte sie am stärksten erfahren wie groß
die Macht der Liebe sei, denn Frauenherzen, die mit Hass und Bosheit
umgeben waren, waren durch Liebe zu erweichen. Sie bekämpfte
beständig ihre Abscheu und ihren Hass gegen die Unmenschen und
stellte sich immer aufs Neue die Frage: "Wie hätte Jesus
gehandelt?".
Jetzt stand ich zwischen den Gräbern der Katarina Görzen und
Heinrich Wedel. Sie starben an dem selben Tag, aber jeder hatte seinen
Begräbnistag, zu welchem alle Bewohner des Dorfes erschienen. Ihre
Persönlichkeiten waren grundverschieden. Wedel war eine Kraft, K.
G. ohne Kraft aber eine Macht. Wedel sorgte für den Wohlstand im
irdischen Leben, K. G. für das Wohlergehen im Jenseits.
Ich fand den Grabhügel des Kuterleer Johann Epp. Er war ein hoher
Mann mit einem sanften Blick und einer weichen, wunderbaren Stimme. Er
fühlte sich berufen auf Festen den Gesang zu führen.
Wohlwollend, nicht aufdringlich, leitete er den Gesang ein, selbst ging
er in den Tenor über, und alle fühlten seine feste laute
Stimme, der auch der schlechteste Sänger sicher folgte. Als
Pferdewärter des Dorfes verstand Onkel Epp auch die streitbare
Frage im Gebrauch der Tiere friedlich zu lösen, sowie zum Nutzen
der Pferde als auch der Kollektivisten. "Einem jedem das Seine",
erwiderte er als ich seine wunderschöne Stimme lobte. Er sagte es
einfach, ohne jegliche Prahlerei und fügte langsam hinzu, dass er
immer mit sich kämpfen musste, um nicht die Starken, Klugen,
Schönen und Tapferen zu beneiden. Im Geist sah ich ihn, wie er
1943 im Molotower Gebiet auf der Kohlengrube 76 aussah: mit beiden
mageren Händen führte er ein Stück Brot mit
draufgelegter Butter, das ihm seine Frau geschickt hatte, zum Munde.
Die Tränen rollten von den Wangen auf die Butter, dann verzehrte
er alles gierig: Geschmiertes Brot mit Tränen zusammen, erfreut
über dieses teuerste Geschenk. Nach dem Krieg kehrte er heim und
war wieder der Vorsänger auf Freud- und Trauerfesten. "5.000
Menschen speist der Herr, mit wenig Brot und Fisch, O, komme Du
Gesegneter, und segne unser Tisch, und segne unsern Tisch..." sang er
lauter als alle anderen vor den Mahlzeiten auf den Festen.
Seine Schwester Maria Pankratz hatte auch eine
wunderschöne Stimme
und sang, trotz großer Armut, schon am frühen Morgen. Auf
der Straße blieb man stehen, um ihren Tönen zu lauschen.
Drei Söhne hatte Frau Pankratz in den vierziger Jahren zum
Friedhof gebracht und ihren Mann, Heinrich Pankratz, hatte sie seit
dieser Zeit auch nie mehr gesehen. Am frühen Morgen, des 6.
November 1942, versammelten sich alle Bewohner des Dorfes beim
Pferdestall, auch Eppenstall genannt, zum Abschied von den
Mobilisierten. Das war die zweite Mobilisierung, die nach Norden in die
Kohlenschächte ging. Das Gepäck wurde auf den langen
Leiterwagen geladen. Trotz der großen Menschenmenge war es nicht
laut. Onkel Pankratz betrat als erster den Leiterwagen, hob eine Hand
auf und richtete sich mit zitternder Stimme an alle Versammelten:
"Teure Kuterleer! Ich bin oft hart und grob gewesen! Verzeiht es mir,
bitte! Ich hab' es nicht böse gemeint!" Niemand achtete besonders
auf seine Worte, denn alle waren beschäftigt mit dem ihrigen:
Mütter mit Söhnen, Frauen mit jungen und alten Männern,
Mädchen mit ihren Jünglingen oder Freunden, Verwandten. Dann
ging der Leiterwagen vom Hof. Hatte Heinrich Pankratz es geahnt, dass
er Kuterlja zum letzten Mal sah, so dass er ein Verlangen hatte, von
allen in Frieden zu scheiden? Seine Knochen ruhen in einem tiefen
Schacht, unter den hohen Fichten des Nordens, aber seine Frau Maria
hatte ein gut gepflegtes Grab. Der Wohlstand kehrte schließlich
auch in das Haus von Frau Pankratz ein: schöne Zimmer, Möbel,
Kleidung und Nahrungsmittel im Überfluss. Sie wurde in Liebe von
ihren Kindern auf Händen und Wägelchen zum Tempel getragen.
Nicht jeder Mutter wird solche Liebe zu Teil.
Gerhard Thießen
und Nickolai Pauls stammten aus dem Süden,
aus Rudnerweide und Franztal. Beide liebten die Arbeit, Ordnung und den
Frieden. Deshalb hatten sie wahrscheinlich den Süden verlassen,
denn dort entwickelte sich der Klassenkampf in den Jahren der
Kollektivierung zu größeren Widersprüchen als in den
ärmeren Dörfern der samarischen Steppen. Weil sie
Zimmermänner und feine Tischler waren, entstanden alle Bauten im
Kolchos in den dreißiger und vierziger Jahren unter ihrer
Leitung. N. Pauls führte auch die Bienenzucht im Dorf ein, denn
von der Ansiedlung her bis 1933, gab es nicht einen Imker. Wie Milch
und Blut war der Honig in den Jahren der Ansiedlung geflossen, da die
Neulandsteppen reich an verschiedenen Blumen waren.
Der alte Onkel Abram Schartner hatte ein gutes,
arbeitsames Leben
geführt. Er war ein Ansiedler des Dorfes Podolsk und nicht
Kuterlja. Seine Aussprache war polnischer Herkunft, bestätigt
durch ein Tagebuch seines Vaters aus den dreißiger Jahren des
vorigen Jahrhunderts. Die krausen gotischen Buchstaben dieses
Tagebuches waren nur mit großer Mühe zu entziffern. Das
merkwürdigste in diesem 150 Jahre alten Tagebuch war, dass die
Mennoniten in Polen einen großen Wert darauf legten, unter
welchem Sternzeichen sie geboren waren (Krebs, Löwe u. a.). Onkel
Schartner zählte man zu den wohlhabendsten Bauern des Dorfes
Podolsk. Im Jahre 1930 wurde seine Wirtschaft verallgemeinert. Ein
viertel Jahrhundert lebte er noch in Kuterlja, still,
zurückhaltend, in Erinnerungen an seine 40-jährige opfernde
Arbeit in Podolsk. Er besorgte fleißig seinen kleinen Garten,
seine Kuh und Geflügel und bedauerte die Zukunft, wenn er das
Treiben auf dem Kolchoshof beobachtete. "Bei dem Abrunden der Ecken der
Felder bleibt schließlich ganz wenig Land für den Weizen."
sagte er, wenn er die Felder beschaute. Aber ich dachte die Bauern
lebten gut und hatten alle genügend Brot und Butter.
Zunächst meldete eine große Tafel: "Hier ruhen in Frieden
Abram und Anna Schartner." Abram war der älteste Sohn des alten
Schartners. Bei ihm und seiner Ehefrau (geb. Neufeld) fand Onkel
Schartner an seinem Lebensabend eine Stätte, als man ihm 1930
Haus, Hof, Land und Vieh weg nahm. Seine große schöne
Familie fand sich später gut in den neuen Verhältnissen der
Sowjetzeit zurecht. Der Alte aber, betete jeden Abend aufs Neue, dass
der große Gott ihm helfen möge, seinen Stein im Busen gegen
die Sowjetregierung, die ihm alles genommen hatte, los zu werden, denn
als ein Mennonit wollte er nicht Rache üben. Der Junior Abram
Schartner war lange ein Brigadier in der Kollektivwirtschaft und
arbeitete auch als ein Pferdepfleger in einem großen Pferdestall.
Anna
Martens (geborene Klassen) war die jüngste Tochter von
Ansiedler Abram Klassen und Sara
Klassen (geboren 1849 und 1855). Sie
stammten aus Friedensruh und Tiegenhagen. Am 19.2.1892 verließen
sie Tiegenhagen und kamen am 2.3.1892, ermüdet
von der Reise mit dem Zug, in Neu Samara, Station Sorotschinsk an. Am
Anfang lebten sie bei ihren Bekannten und am 30. April siedelten sie
auf ihrem Grundstück. Am 22.4. fuhren sie zum ersten Mal aufs
Feld, und bauten auch ein Lehmhaus, welches sie im 7. September
einweihten. Am 22. Juli wurde der erste Weizen gemäht. Das
Tagebuch vom A. Klassen berichtet von seiner vielseitigen Wirtschaft in
Neu Samara: Die Stuten und Schweine beigelassen, am 21. Februar die
Schafe geschoren. Klassens waren wohl die akkuratesten Bauern des
Dorfes. Obwohl in Kuterlja der Familienname Klassen mit der Zeit
ausstarb, gab es Leute in anderen Dörfern, die diesen Namen
trugen. Sie erhielten einen Beinamen wie "Straumi-Klassen".
Eine heitere Begebenheit aus dem Leben des alten Klassen passierte im
Schulgebäude an einem Sonntag Morgen. Prediger Isaak
sagte: "Ein
Rabbelchen gibt immer wieder ein Rabbelchen. Es gibt Menschen, die
immer wieder mit den Sünden der Väter geplagt werden." Bauer
Klassen, der wahrscheinlich die verschiedenen Sünden erkannte,
empörte sich gegen Bauer Isaak, stand auf, streckte die rechte
Hand aus und rief: "Ich weiß schon, wen du meinst!" Dann
verließ er eilends das Schulgebäude. Der Segen war an diesem
Morgen nicht auf die Gemeinde gefallen. Schweigend gingen alle
auseinander. Es kostete Bruder Isaak viel Mühe, dem Klassen zu
erklären, er habe nicht ihn persönlich im Auge gehabt,
sondern die Schwächen aller Menschenkinder, auch sich selbst.
"Sage es dann auch so" war die Antwort des Klassen. Am nächsten
Sonntag war Bruder Isaak vorsichtiger mit seiner Predigt und anstatt zu
sagen "Es gibt Menschen" sagte er laut und deutlich: "Wir Menschen".
Abram Klassen zählte zu den wenigen, die nach 13 schweren
Arbeitsjahren am 13.1. 1905 zum Besuch zu ihrer Mutterkolonie fuhren.
Aber knapp drei Wochen später war er schon wieder in Kuterlja,
denn die Sorgen um die Pferde, Kühe, Schweine und Schafe hatten
ihm keine Ruhe gelassen.
Am Grabhügel von Anna Martens erinnerte ich mich an ihren Vater
Klassen. Jetzt wohnte schon die dritte Generation in Klassens Haus und
immer war hier mennonitische Ordnung und Sauberkeit. Der Ehemann von
Anna Jakob
Martens war in den Kriegsjahren 1943 am Baikal-Stroj ums
Leben gekommen. Die Familie erfuhr es erst 1945 und am 6.2. feierte das
ganze Dorf in tiefer Trauer sein Begräbnis. Der Sohn von Abram
Klassen, Jakob Klassen, gehörte zu den letzten Mennoniten die nach
Neuberdjansk zu einem Försterdienst fuhren.
Nicht weit entfernt war die Erde mit Rosen und Tulpen bepflanzt, unter
welchen Helene Schröder und
Lilli Pauls ruhten. Diese beiden waren
Opfer eines großen Ereignisses im September 1954. Alle Frauen
unseres Dorfes waren mit der Wassermelonen-Ernte auf dem Felde
beschäftigt, denn nicht jedes Jahr ist günstig für
dieses Gemüse. Plötzlich um fünf Uhr abends wurden die
Augen durch ein helles Licht für einen Augenblick geblendet. Ein
dumpfer Knall schallte und alle Frauen richteten ihre Blicke dem Westen
zu. Da stieg ein großer, schwarzer Pilz empor, hoch hinauf zum
Himmel, "Die Atombombe, die Atombombe!" riefen alle durcheinander. 70
Kilometer entfernt wurde sie gesprengt. Ein Experiment. Ein starker
Wind wehte Blätter, Aste, Karten, Fetzen übers
Wassermelonenfeld. Wir staunten alle über das große Wunder,
dessen Augenzeugen wir jetzt waren. Einem großen Eichenblatt
wollte ich damals nachjagen, denn Eichen gab es bei uns nicht. "Lass
das liegen, wir wissen nicht womit es besudelt ist!" rief Helene
Schröder mir zu. Ich befolgte ihren Rat. Die hohe Säule
verschwand allmählich und wir machten uns wieder an die Arbeit.
Lilli Pauls, mit welcher ich damals den Korb mit Wassermelonen trug,
rief den Frauen zu: "Frauen, eine herrliche Zeit rückt heran, man
sagt, eine Streichholzschachtel voll solchem Brennstoff kann Tausende
Dörfer beheizen. Dann wird das Mist formen ein Ende haben, denn
das ist für mich die abscheulichste Arbeit." "Ob wir das erleben
werden?" hatte Frau Schröder lächelnd bezweifelt. Beide haben
es nicht erlebt. Hier ruhten sie nahe beieinander Sie wurden beide
Opfer des Krebses, wie viele, viele andere des Dorfes. Die Furcht vor
dem Krebs hauste in allen Häusern und die Verstorbenen in der
letzte Reihe wurden fast alle krebskrank. Wer kann es bezeugen, wer
widerrufen, dass die Atombombe nicht der Schuldner war?
Östlicher auf dem Friedhof befand sich die Ruhestätte einer
alten Frau Epp-Schellenberg,
auch eine der Ersten in Kuterlja. Sie
hatte verschiedene Waisenkinder adoptiert, weil sie kinderlos war, und
alle hatten als Erwachsene etwas gemeinsam: Demut, Untertänigkeit.
Es gab im Dorf sogar Sprichworte die von Frau Epp stammten. Auch
über ihre Männer hatte sie geherrscht wie über die
adoptierten Kinder.
Die Besonderheiten im Charakter der Ansiedler erwachten oft in der
vierten oder fünften Generation. Dann pflegte man im Dorf zu
sagen: "Daut es en achta Panna, Friese, Unga, Kreja, Tews,
Thieße, Maures, Wedel oder Suckau." Ein jeder des Dorfes wusste
dann was gemeint war. Eine besondere Rolle spielte dieses bei
Eheschließungen, wo die Jungen gewarnt wurden. Gott sei dank, bei
den Jungen dominierte doch gewöhnlich die Liebe.
In der nordwestlichen Ecke des Friedhofs war ein eingefallener
Grabhügel. Es lag da ein Knecht, 1927 begraben, der seine Laster
nicht bekämpft hatte. Abends hatte man ihn betrunken gesehen und
am Morgen fand Bauer Janzen ihn unter dem Zaun, tot. "Ein Moslemer hat
ja auch nichts auf unserem Friedhof verloren" meinte der Nachbar Aber
er war ein Mensch und der Hochmut der Mennoniten, die ihn in der Ecke
beerdigten war nur Engstirnigkeit. Wie viele gab es, die ihre Armut,
die Erniedrigung ihrer Persönlichkeit, ihre Ausbeutung versuchten
in Alkohol zu ertränken. Eines stand fest: man hatte auf ihn hinab
geschaut. Nach vielen Jahrzehnten würde man schon niemanden in
einer Ecke begraben, ob Deutscher oder Russe, Mennonit oder Orthodoxer
oder Moslem, ob mit oder ohne Laster. Alle Verstorbenen lagen in Reihe
und Glied. Der Friedhof war wohl auf 100 Jahre verrechnet. Es ruhten
hier in 85 Jahren in 16 Reihen zu 25 Personen in einer Reihe,
durchschnittlich fünf Jahre eine Reihe. Oft fand man in den
letzten Reihen die Namen der Verstorbenen der ersten Reihen,
Söhne, Töchter, Enkel, Urenkel.
Der Name des Ansiedlers Friesen wiederholte sich auf dem Friedhof drei
Mal. Dort in jener Reihe ruhte der Sohn Heinrich
Friesen, der als
erster Rundfunk im Dorf hatte, ein wahres Zeichen für die neue
Technik, auch fuhr er die ersten Autos, die ins Dorf kamen, alles als
Laie, aus Liebe zur Technik. Meine Eltern gingen zu Friesens um am
Weihnachtsfest ganz geheim bei verschlossenen Türen Liedern aus
Deutschland zu lauschen! Am Kriegsanfang 1941, wurden alte Radios
eingezogen, damit nur Meldungen aus Moskau verbreitet werden konnten.
Heinrich Friesen (geb. 1897) schaute später mit Weh im Herzen auf
die junge Generation, die als Kraftfahrer in der Stadt Sorotschinsk
lernten und den Bau des Autos besser kannten als er. In jener Reihe
ruhte der Sohn des Ansiedlers Peter Friesen (1995). Er war kein Arzt
von Bildung, aber ein Tierarzt aus eigenem Beruf. Nicht ein Bauernhaus
und die ganze Kollektivwirtschaft kamen aus ohne ihn, denn er wusste
über jede Krankheit Bescheid. Nach den Kriegsjahren, als die
medizinische Versorgung noch schlecht war, gab er Menschen oft einen
guten Rat. Jahrzehnte war Peter Friesen der Leiter einer Milchfarm, wo
Ordnung herrschte solange er da war.
Auch der dritte Sohn des Ansiedlers H. Friesen Jakob Friesen ruhte
hier. Er hatte wohl den Humor und die Satire vom Vater geerbt. Er hatte
sich der neuen Zeit angepasst und ging nicht gegen den Strom in den
dreißiger Jahren wie seine Brüder Heinrich und Peter, die
als letzte in die Kollektivwirtschaft eintraten. Jakob Friesen war in
Kuterlja der erste Rotarmist und diente in der Roten Kavallerie. Also
kein Nachfolger von Menno Simons, dessen Lehre gegen einen Dienst in
jeglicher Armee war.
Auch der Name des Ansiedlers Heinrich Martens
(1897-1991) wiederholte
sich hier wohl in die fünfte Generation hinein. Seine Ehefrau war
Katharina Martens, geb. Friesen (1895 - 1978). 39 Jahre lebten wir in
der Nachbarschaft. Onkel Martens war eine lebendiges Archiv der
Vergangenheit, denn seine Erinnerungen waren Episoden der
Dorfgeschichte. Lesen und Schreiben konnte er nicht, er schrieb keine
Briefe, obwohl er sieben Jahre in der Arbeitsarmee war. Das Land und
die Wirtschaft liebte er und war fleißig wie kein zweiter im
Dorf. Für die Beheizung des Hauses sorgte er mit Holz sägen
und Mist machen. Fünfzig Jahre spielte er allein Domino. Er
besuchte nie einen Arzt und zog sich selbst die Zähne mit einem
Zwirn aus. Trotz seiner 94 Jahre ist an ihm der Stress des 20.
Jahrhunderts vorbeigegangen.
Ein ehemaliger Lehrer, Abram Thießen war in den
dreißiger
Jahren im Gefängnis und hatte dann eine lange, plagende Krankheit.
Lehrer Isaak Kröcker, wurde später Buchhalter der
Kollektivwirtschaft, Bis 1930 unterrichteten in Kuterlja Lehrer
Sawadski, Lehrer Brucks, Lehrer Reimer, Frau Helene Dück, Lehrer
Töws. Alle waren
Persönlichkeiten, zu welchen alt und jung
hinauf schauten. Lehrer Heinrich Heide war Zeuge als die
Kollektivierung im Dorf zustande kam und wurde als erster Abgeordneter
aus dem Dorf zu einer Bezirksversammlung geschickt. Die Lehrerinnen der
Nachkriegsjahre, gewöhnlich junge Mädchen, wechselten fast
jährlich. Unsere Väter und Urväter stellten große
Anforderungen an den Lehrer: war er nicht im Stande einen vierstimmigen
Gesang in der Schule und im Dorf zu leiten, verstand er nicht eine
Ansprache auf Freud- und Trauerfesten zu halten, glich sein Benehmen
einem Bauernjungen, so wurde er von den Mächtigen im Dorf
entlassen. Der Lehrer, ob ledig oder mit Familie, lebte im
Schulgebäude (zwei Zimmer, Küche, Vorzimmer) und musste
seinen Beruf verteidigen, damit alle mit Hochachtung zu ihm
hinaufschauen konnten.
Mein erster Lehrer, Lehrer Gerhard Thießen stammte aus
Rudnerweide, Ukraine. Wir liebten und verehrten ihn von 1931 bis 1934.
Nicht nur in das Reich des ABC und des Einmaleins führte er uns,
sondern auch in das Reich der Musik. Welch ein Wunder alle Töne
des Gesanges mit Ziffern von eins bis sieben zu bezeichnen. Diese
Ziffern schrieb Lehrer Thießen dann auf die weißen Tasten
des Fußharmoniums und jeder durfte dann das entsprechende Lied
nach Ziffern auf diesen Tasten suchen. 135-54321. Dann kam das
2-stimmige Spiel: 3 und 1, 4 und 2,5 und 3, Es klang wunderbar! Auch
die Bassstimme dazu mit der linken Hand! Lehrer Thießen verdanke
ich, dass ich auf dem Fußharmonium mein Leben lang alles nach den
sieben Ziffern spielte, oft auf Trauerfesten, oft auf Freudenfesten.
In einem breiten Grabe ruhten zwei junge Mädchen, die in einer
Stunde in dem Teich am südlichen Ende des Dorfes, in der
Tränke für das Vieh, ertranken. Sara
Fransen und Helene Epp
waren junge Backfische, die lustig ins Leben schauten. Auch ohne
Telefon im Dorf war es im Nu bekannt, dass man sie im flachen Teich
suchte. Nur vier Ertrunkene ruhten in diesem Jahrhundert auf dem
Kuterleer Friedhof jeder Fall war ein Schreck für das ganze
Dorf. Jetzt dachte ich mehr an die Mütter der Ertrunkenen, auch
eine Sara
Fransen (geb. Görzen). Keine zweite Frau im Dorf hatte
so viel Kummer und Schmerz erfahren. Gleich nach ihrer Heirat 1930
wollte ihr Ehemann Peter Fransen seine junge Familie gut
ernähren
durch tüchtige Arbeit. Er grub einen tiefen Brunnen, drei Meter im
Durchmesser. Tag für Tag grub er, auch in heißen Stunden.
Die Anstrengung war zu groß, er erkrankte an Rheuma und dann
versagten seine unteren Gliedmaßen und vertrockneten. Der
Oberkörper aber war gesund und von einem großen Geist
geprägt. Zehn Jahre war er bettlägerig, die Frau Sara
betreute ihn und die ständig wachsende Familie hatte keinen
Versorger. Als Frau Töws den Verstorbenen Peter Fransen in einem
Laken mit eigenen Händen zum Sarge trug, um ihn zu kleiden, sagte
sie, dass ein einen Meter langer Sarg für den Peter gereicht
hätte. Als ich auf den Sargdeckel mit weißer Kreide einen
Spruch geschrieben hatte, erinnerte ich mich an ein Gespräch mit
Onkel Fransen, dem ich etliche Male eine Hühnersuppe brachte. Wie
fest war er im Glauben, keine Spur von Verzweiflung oder Murren. Er
sprach mit solcher Liebe zu seinem Heiland, dass ich als junges
Mädchen ihn beneidete. Er hatte den tragischen Tod seiner Tochter
Sara nicht erlebt. In Armut und bei schwerer Arbeit erzog Sara ihre
große Familie zu guten Menschen.
Mehrere Frauen wie Amalie Isaak, Frau Reimer, Frau
Dridiger, Aganeta
Isaak, Helene Schröder, Suse Park kamen durch Bekannte oder
zufällig nach Kuterlja von 1943-47 oder aus Kasachstan oder
Sibirien. Alle wurden aus ihrer Heimat 1942 vertrieben, entweder aus
der Ukraine, oder aus dem Kaukausus. Ihre Männer waren schon in
den dreißiger Jahren der Repression zum Opfer gefallen, dann kam
die Aussiedlung in den unbekannten, kalten Osten des Landes. Hier in
Kuterlja auf dem Friedhof nahmen die Leiden ein Ende. Aganeta Isaak war
eine intelligente Frau, die Frau, Tochter und Enkelin eines Lehrers.
Die Familie lsaak hatte sich über die Mittelmäßigkeit
der Mennoniten erhoben und sprach Hochdeutsch. Mit Ehemann Johann,
Lehrer einer Mittelschule, hatte sie gehofft ihren Kindern eine gute
Bildung zu geben. Der große Krieg mit Deutschland zerstörte
all diese Träume! Jetzt lebten ihre drei Kinder verstreut im
Norden, Sibirien, Ural. Bunt und schwer war das Schicksal des deutschen
Volkes in Russland im Verlauf von 200 Jahren. Es gab aber auch
kurzfristig gute Zeiten.